Montag, 19. April 2010

Es waren zwei Königskinder

Wie vom Donner gerührt stehe ich in meinem Wohnzimmer und starre auf das Fernsehgerät. Es ist Donnerstagabend, der 9. November 1989. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Alles geschieht zeitgleich. Jubelnde Menschen, weinende Menschen. Freudige Rufe, hysterische Schreie. Stimmen, die in allen Tonlagen rufen: "Die Mauer ist gefallen"
"Ja und," höre ich mich laut sagen, "ist euch denn nicht klar, was das bedeutet? Was da auf uns zukommt?"
Erschrocken blicke ich um mich und bin froh, dass es keiner hörte. Da mein Mann zu dieser Zeit beruflich im Ausland weilt, muss ich mich dafür nicht rechtfertigen.

Nach einer bedenklich kurzen Zeit der euphorischen "Die Mauer ist gefallen Rufe", hörte ich von vielen Menschen den Satz: "Ich würde ein Monatsgehalt geben um die Mauer wieder aufzubauen." 'Na toll', dachte ich, 'erst Hurra schreien und dann mit der Sache nichts mehr zu tun haben wollen. Ist mal wieder typisch.' Nach außen verhielt ich mich passiv und lies mich auf das Thema nicht weiter ein.

Nun sind mehr als 20 Jahre nach diesem denkwürdigen Tag vergangen und ich hatte viel Zeit darüber nachzudenken. Wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblicke, stelle ich fest, im Februar 1992 begann unmerklich ein neuer Lebensabschnitt für mich. Was war geschehen?

Im Februar 1992 begann ich bei "Bertelsmann LEXIKOTHEK" - mit einer 14tägigen Schulung zur Direktverkäuferin - eine für mich absolut neue Tätigkeit. Worauf ich mich da einlies, dessen war ich mir keineswegs bewusst und das war gut so. Denn hätte ich auch nur den blassesten Schimmer einer Ahnung gehabt, ich hätte nie und nimmer diese Tätigkeit begonnen.

Von dem Produkt, der Lexikothek von Bertelsmann, war ich überzeugt und es machte mir große Freude sie zu verkaufen. Anfangs hatte ich auch Erfolg und fast keine Stornierungen. Dann, ganz unverhofft, kam der Einbruch. Drei Jahre wurstelte ich mich so durch und versuchte an meinen Anfangserfolg anzuknüpfen, dann zog ich einen Schlussstrich; es war mir den finanziellen und zeitlichen Aufwand nicht mehr wert.

Meine Zeit bei Bertelsmann entschwand zunehmend in die Vergangenheit, und je weiter sie sich entfernte, desto klarer wurde mein Blick darauf. Allmählich dämmerte es mir, nicht des Verkaufens wegen landete ich bei Bertelsmann, der Grund war vielmehr die einzigartige Möglichkeit, die sich nur dem Direktverkäufer bietet: Einlass in die Wohnung - dem privatesten Raum - völlig fremder Menschen gewährt zu bekommen. Unzählige Gespräche über "Gott und die Welt" erweiterten meinen Horizont und so ganz nebenbei verkaufte ich auch die ein oder andere Lexikothek. Mein Gebietsleiter war natürlich höchst unzufrieden mit meinen verkäuferischen Leistungen, trugen sie doch wahrlich nicht viel dazu bei, seinen Kontostand zu erhöhen. Also wurden vermehrt "Schulungen" anberaumt, mit dem Schwerpunkt: "Wie verwandle ich das Nein des Kunden in ein Ja?" Wie die Theorie in die Praxis umzusetzen ist, konnte ich mir dann bei den Topverkäufern anschauen, die ich auf ihren Touren begleiten durfte. Mein Erkenntnisgewinn war riesengroß, jedoch nicht im Sinne der Firma "Bertelsmann LEXIKOTHEK". Aus diesem Fundus schöpfe ich noch heute.

Während meiner Zeit bei Bertelsmann bekam ich hautnah mit, wie der Direktvertrieb im Osten von Deutschland aufgebaut wurde. Westdeutsche Verkäufer gingen in den neu zu erschließenden Osten um ihre Produkte an den Mann zu bringen. Als Rüstzeug die vielversprechende psychologische Manipulation, die in Schulungen seit längerer Zeit im Westen vermittelt wurde, im Gepäck. Bertelsmann, Banken, Versicherungsgesellschaften und nicht zuletzt Ottonormalverbraucher zogen - einer Karawane gleich - ge'n Deutschlands Osten und jeder hatte etwas im Schlepptau, womit er die Bürger der ehemaligen DDR zu beglücken gedachte; natürlich gegen gutes Geld.

Wenn ich mir nun vorstelle, ich wäre Bürgerin der DDR gewesen und nach dem Mauerfall besuchte mich der freundliche "Herr Kaiser" der Hamburg Mannheimer, von Bertelsmann oder wie sie alle heißen und irgendwann hätte ich dann feststellen müssen, dass man mich - meine Naivität ausnutzend - über den Tisch gezogen hatte, wie würde ich dann reagiert haben und noch heute darauf reagieren? Hätte ich es abgehackt? Hätte ich es verdrängt und tief in mir vergraben? Hätte ich mir gesagt, was mich nicht "umbringt macht mich stark"? Würde es heute noch in mir gären? ...

Es ist mir bewusst, dass diese Fragen spekulativ und Antworten darauf nicht wirklich zu geben sind. Mancher Leser mag denken: "Was soll das? Das ist doch schon längst vorbei und nicht mehr zu ändern." Zu ändern ist es sicherlich nicht, da die Zeit nicht zurückgedreht werden kann. Doch spekulative Fragen zu stellen macht durchaus Sinn, da sie sehr viel Potential zur Selbstreflektion bergen. Wer sich die Mühe macht, Antworten darauf zu finden, wird am Ende vielleicht Verständnis für Menschen haben, die heute noch geistig in der DDR verwurzelt sind. Das könnte dann der Anfang sein, dass die "zwei Königskinder" doch noch zusammen kommen. Keinesfalls ist es Zielführend, diese Mitmenschen in der Schublade "ewig Gestrige" abzulegen. Sie sind nämlich nicht ewig Gestrige, sondern Verführte, durch anmaßend arrogante falsche Versprechen, wie "blühende Landschaften". Das sollten wir uns alle klar machen.

Diesen Text habe ich nicht geschrieben, um uns Westdeutschen ein schlechtes Gewissen zu machen. Fehler wurden und werden auf beiden Seiten gemacht. Meine Motivation war, einen Denkanstoß zu geben um vielleicht bei dem einen oder anderen Leser ein Umdenken in Gang zu setzen. Im übrigen bin ich der Meinung, dass das Verändern des Denkens ohne ein bisschen schlechtes Gewissen kaum möglich ist.

Mit meinem Dank an Nadja Norden, die mich zu diesem Text inspirierte, schließe ich das Thema ab.

Paulinchen

2 Kommentare:

  1. Liebe Margitta,
    Vielen Dank für diesen Denkanstoß. BERTELSMANN Verlag schickt ihre Direktverkäuferinnen nicht nur im DDR Gebiet, sondern sogar zu Deutschen in den Nachbarländer, auch in Flandern! Ich bin der Tanz entsprungen :) Siehe weiter in meinem Blog.
    Sonnige Grüße aus meiner flämischen Sommerfrische,
    Nadja
    <3

    AntwortenLöschen
  2. Ei, ich hab damals auch an so einer Schulung von den Signal-Versicherungen teilgenommen. Denn Unfallversicherungen brauchte das Ost-Land!

    Nach dem Auswendiglernen der 20 Fragen, die alle mit "Ja" und zu beantworten waren, kam dann die Frage nach dem Vertragsabschluss. Die gelernten DDR-Bürger fielen aber nicht rein und sagten auf die 21. Frage ganz nüchtern: "Nein" - zur großen Verzweiflung der West-Schulungsleiter.

    Ich hatte bereits nach der ersten Schulung keine Lust, Leute über den Tisch zu ziehen. Bei mir muss das so gehen: "Brauchst du eine Unfallversicherung?" - "Ja." - Vertragsabschluss. Wenn die Antwort "Nein" lautet, verzieh' ich mich wieder.

    Nun... das war mein erster Ausflug in die Verkäuferwelt.
    Der zweite fand als Immobilienmaklerin statt, das war fast noch besser. Ich hatte kaum Umsätze, aber hoch zufriedene Nicht-Kunden. Ich KANN nicht nur das Positive sagen, wenn ich auch Negatives über ein Objekt weiß.

    Ich glaube, ich bin keine gute Verkäuferin. Aber dafür ein ehrlicher Mensch.

    AntwortenLöschen