Ein gellender Schrei riss mich früh am Freitagmorgen aus dem Schlaf. Als ich zum Fenster rannte, sah ich, was ich befürchtet hatte: Ein Hund war angefahren worden und der Fahrer des Autos hatte sich einfach aus dem Staub gemacht. Das hagere, wolfsähnliche Geschöpf lag zusammengekrümmt vor einer Hauseinfahrt. Ich wusste sofort, dass er niemandem gehörte. Seinem Äußeren nach war er einer jener herrenlosen, hungrigen Köter, die sich in den Straßen der ukrainischen Hauptstadt Kiew herumtrieben - wo ich vorübergehend als Journalist arbeitete.
Mein erster Gedanke war: "Hoffentlich ist er nicht schwer verletzt." Aber als er zu laufen versuchte, fiel er immer wieder auf seine verletzte Schulter. Er schleppte sich vorwärts und hinterließ dabei eine deutliche Blutspur auf dem Bürgersteig. "Er könnte gefährlich sein", dachte ich besorgt. Aber ich täuschte mich. Er stupste immer wieder vorbeilaufende Fußgänger mit der Schnauze an, so als wolle er sie bitten, ihm zu helfen.
In Windeseile verließ ich das Haus und gesellte mich zu der kleinen Gruppe, die sich mittlerweile um das unter Schock stehende Tier gebildet hatte. Die Menschen diskutierten aufgeregt, was am besten zu tun sei. "Ich nehme ihn zu mir", sagte ich und wunderte mich über meine eigenen Worte. "Vorübergehend."
Jemand brachte ein Betttuch und ich musste schmunzeln, als ich sah, dass der Hund sofort versuchte sich auf das Tuch zu rollen. Yelena, meine Nachbarin, bot ebenfalls ihre Hilfe an, und so fuhren wir in ihrem Auto von einer primitiven Klinik zur anderen. Aber alles, was uns die Tierärzte empfahlen, war ein schmerzloser Tod. Ein Bein des Hundes war zertrümmert und niemand hatte die technischen Voraussetzungen, die Ausbildung oder die Medikamente, um ihn zu behandeln. Die Ukraine war 1992 ein armes Land.
Der Hund sah mich wehklagend an, seine Augen waren glasig vom Morphium. Zum Glück hatte ich ein Bündel amerikanischer Dollars in meiner Jackentasche und so war ich fest entschlossen, das Leben dieses Geschöpfs zu retten. "Irgendetwas lässt sich bestimmt tun", sagte ich.
"Wenn irgendjemand etwas tun kann, dann Professor Oleg Feodoseyewicz von der Landwirtschaftsakademie. Er ist der beste Chirurg der Veterinärmedizin, den dieses Land zu bieten hat", wurde mir erzählt. Und schon kurz darauf trugen Yelena und ich unseren Patienten durch einen Stall voller Schweine und Kühe in einen großen Operationssaal, der voll von kichernden Studenten mit lustigen weißen Papiermützen war. Der berühmte Oleg Feodoseyewicz tastete behutsam den Körper des Hundes ab. Er lächelte und sagte schließlich den magischen Worte: "Das kriegen wir schon wieder hin."
Die Operation dauerte vier Stunden und ich schaute zu, wie der Professor geduldig eine Metallschiene in das Bein des Hundes einpflanzte. Der Hund war die ganze Zeit über wach. Er jaulte jedes Mal, wenn die örtliche Betäubung abnahm. "Er braucht mehr Betäubung", sagte dann immer irgendwer. Und meistens war ich derjenige.
Nur wenige Minuten nach der Operation saßen wir wieder im Auto. Der Hund hatte zwei weiße Gipsverbände und ich eine Liste mit Anweisungen für die häusliche Nachbehandlung und die dafür notwendige Medizin, die ich noch kaufen musste. Wo aber sollte ich Gazetupfer und Schmerzmittel in einer Stadt herbekommen, deren Apotheken kaum mehr als Vitamine und Kräutertees im Angebot hatten?
"Mach dir keine Sorgen", sagte Yelena. "Die Apotheken sind zwar leer, aber die privaten Medizinschränke sind voll." Und tatsächlich, noch am selben Abend kam Yelena mit einer Tasche voller Glasfläschchen, Tuben, Spritzen und Tabletten an.
Drei Tage und Nächte lang stöhnte mein kranker Patient und lag bewegungslos auf einer Decke. Er bewegte nur ab und zu seinen Schwanz, der jedes Mal laut auf den Parkettfußboden schlug, wenn ich das Zimmer betrat. Ich fütterte ihn mit Hühnersuppe aus einer Pipette. Sechsmal am Tag wechselte ich den Verband, der den Gips zusammenhielt, und wenn ich die Gaze von seiner blutigen, rasierten Haut entfernte, hatte er jedes Mal große Schmerzen.
Da ich hoffte, vielleicht doch den Besitzer zu finden, schaltete ich Suchanzeigen in der Zeitung. Ich erhielt viele Anrufe, aber leider nicht von der Person, zu der er gehörte. Mehrere Anrufer boten an, ihn zu adoptieren, und so fing ich an, eine Liste von möglichen Besitzern für den Tag anzulegen, an dem er wieder gesund war.
Schon bald konnte der Hund wieder feste Nahrung zu sich nehmen, und daher ließ ich schnell meine Putzfrau Nadia kommen, damit sie ihm etwas zum Fressen zubereiten konnte, denn Dosenfutter westlichen Stils gab es damals noch nicht in der Ukraine. Und so stand die etwas füllige Nadia, die Hunde über alles liebte, schon bald an meinem Herd und kochte einen Brei aus Kartoffeln, Möhren und Fleischstückchen. Da ich nie zuvor einen Hund gehabt hatte, war sie es auch, die mich in die Grundlagen der Hundehaltung einführte.
Schließlich kam der Tag, an dem mein Patient wieder laufen konnte, und ich es wagte, mit ihm das Haus zu verlassen, nachdem ich ihn die letzten 20 Stufen hinunter zur Straße getragen hatte. Als er mit den beiden vergipsten Beinen schwanzwedelnd den Gehweg entlanghumpelte, schlug ihm eine große Welle der Sympathie entgegen. Auf den Balkonen schüttelten Großmütter bewundernd ihren Kopf und Kinder sprangen um uns herum und fragten, ob es dem Hund wehtun würde, wenn sie seinen Kopf streichelten. Jeder Hundebesitzer, der uns sah, hielt an und empfahl uns sein spezielles Hausmittel gegen Knochenbrüche.
"Eierschalen", meinte eine Frau, die fast einen ganzen Block weit gelaufen war, um mir dies mitzuteilen.
Dann war endlich der Tag da, an dem Oleg Feodoseyewicz kam, um die Gipsverbände abzunehmen. Wir hievten den Hund in die Badewanne und Yelena und ich hielten ihn, während der Arzt den Verband wegschnitt.
"Sie wissen, dass ein Hund einen Namen haben muss", sagte er.
"Oh nein", antwortete ich und zeigte ihm die Liste von Interessenten. "Ich habe nicht vor, ihn zu behalten. Wissen Sie, mein Lebensstil, das viele Reisen, das zu meinem Beruf gehört ..."
Der gute Doktor schaute mich nur an und lächelte.
Und er sollte Recht behalten, denn Olivier - wie ich ihn schließlich nannte - blieb bei mir. Er wurde wieder völlig gesund und überschüttete mich mit seiner Liebe. Er bestätigte immer wieder, wie richtig mein spontaner Entschluss an jenem traumatischen Freitagmorgen gewesen ist. Oft holte er mich aus meiner Einsamkeit, meiner Wut und meiner Antriebslosigkeit. Ihm verdanke ich großartige Sonnenaufgänge über dem Dnjepr und viele Bekanntschaften im Park. Er verzauberte mich stundenlang, wenn ich ihm beim Spiel mit seinen vierbeinigen Freunden zuschaute. Er schenkte mir feuchte Küsse und erwärmte mein Herz mit lautem Begrüßungsgebell.
Habe ich ihn gerettet oder er mich?
Zwei Jahre später verließ mich Olivier genauso unvorhergesehen, wie er in mein Leben getreten war. Er spielte gerade mit seinem besten Freund im Park, als er plötzlich zusammenbrach und starb. Die nachfolgende Autopsie ergab als Todesursache einen Riss in der Leber, die doppelt so groß war, wie sie eigentlich hätte sein dürfen. Er hatte keine Chance, meinte die behandelnde Tierärztin der Landwirtschaftsakademie. Olivier habe viele gesundheitlich Probleme gehabt, weil er als vagabundierender Straßenhund lange Zeit unterernährt gewesen ist.
Als die Ärztin meinen Kummer sah, versuchte sie mich in der typisch schroffen Weise der Slawen zu trösten. "Wissen Sie, man sollte einfach keinen alten Hund von der Straße auflesen. Sie haben zu viel mitgemacht, um lange zu leben. Es lohnt sich nicht, Gefühle in sie zu investieren."
"Weiß diese Frau überhaupt, wovon sie redet?", fragte ich mich, als ihre Worte in mir nachklangen.
Ich verließ die Tierklinik und wusste genau, dass ich die gut gemeinten Ratschläge dieser Ärzte niemal befolgen würde.
Roma Ihnatowycz
Aus: "Hühnersuppe für die Seele - Für Tierfreunde"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen
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Hallo Paulinchen,
AntwortenLöscheneine sehr schöne, und vor allem, eine sehr kluge Geschichte.