Freitag, 26. Februar 2010

Die Gewalt

Die Gewalt fängt nicht an,
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an,
wenn einer sagt:
"Ich liebe Dich:
Du gehörst mir!"

Die Gewalt fängt nicht an,
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an,
wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun, was ich sage!"

Die Gewalt fängt an,
wenn Eltern
ihre folgsamen Kinder beherrschen
und wenn Päpste und Lehrer und Eltern
Selbstbeherrschung verlangen.

Die Gewalt herrscht dort,
wo der Staat sagt:
"Um die Gewalt zu bekämpfen,
darf es keine Gewalt mehr geben
außer meiner Gewalt!"

Die Gewalt herrscht,
wo irgendwer
oder irgendwas
zu hoch ist
oder zu heilig,
um noch kritisiert zu werden,

oder wo die Kritik nichts tun darf,
sondern nur reden,
und die Heiligen oder die Hohen
mehr tun dürfen als reden.

Die Gewalt herrscht dort,
wo sie ihre Gegner einsperrt
und sie verleumdet
als Anstifter zur Gewalt.

Das Grundgesetz der Gewalt
lautet: "Recht ist, was wir tun.
Und was die anderen tun,
das ist Gewalt"

Die Gewalt kann man vielleicht nie
mit Gewalt überwinden,
aber vielleicht auch nicht immer
ohne Gewalt.

(Erich Fried)

2 Kommentare:

  1. sehr gutes gedicht. ich hasse jene leute, die behaupten: gewalt beginnt erst, wenn auschwitz errichtet und in betrieb genommen ist.

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  2. Die Katze aus dem Sack27. Februar 2010 um 16:01:00 MEZ

    Gewalt oder Liebe - ist wie ein Geschenk, welches mir entgegen gebracht wird. Die angemessene Art und Weise auf dieses Geschenk zu reagieren kann sein, es liebevoll und bestimmt entgegenzunehmen und ebenfalls ein Geschenk zu überreichen.

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