Samstag, 12. Juni 2010

Danke, dass du an mich geglaubt hast

"Wirkliche Entdeckung besteht nicht darin, neue Länder zu finden, sondern etwas mit neuen Augen zu sehen."
Marcel Proust

Als junge Sozialarbeiterin arbeitete ich in einer psychiatrischen Klinik in New York City. Eines Tages wurde ich gebeten, mir Roz anzusehen, eine zwanzigjährige Frau, die uns von einer anderen psychiatrischen Einrichtung überstellt worden war. Es war eine ungewöhnliche Überweisung, denn vor unserem ersten Kontakt hatte ich keinerlei Informationen über sie. Mir war aufgetragen worden zu "improvisieren" und im Laufe des Gesprächs herauszufinden, wo ihre Probleme lagen und welche Hilfe sie benötigte.

Ohne eine Diagnose, an die ich mich hätte halten können, erlebte ich Roz als eine unglückliche junge Frau, der noch niemals wirklich zugehört worden war. Ihre familiäre Situation war äußerst problematisch. Für mich war sie nicht gestört, ich empfand sie eher als einsam und unverstanden. Sie reagierte sehr positiv darauf, dass ich ihr zuhörte. Ich half ihr ein Leben aufzubauen, das sich zu leben lohnte - einen Job und eine schöne Wohnung finden und neue Beziehungen aufzubauen. Wir hatten einen guten Start, und so machte Roz sehr schnell entscheidende Fortschritte.

Die Berichte der vorherigen psychiatrischen Einrichtung kamen einen Monat nachdem ich mit Roz erfolgreich zu arbeiten begonnen hatte. Zu meiner Überraschung waren die Unterlagen mehrere Zentimeter dick und dokumentierten zahlreiche Einlieferungen in die Psychiatrie. Die Diagnose lautete "paranoide Schizophrenie" mit dem Vermerk "hoffnungsloser Fall".


Meine Erfahrung mit Roz ging in eine ganz andere Richtung, daher ignorierte ich einfach den ganzen Papierkram. Ich behandelte sie nie, als sei sie ein hoffnungsloser Fall - und lernte viel über den Wert und die Richtigkeit von Diagnosen. Stattdessen erfuhr ich von Roz, wie schrecklich diese Einlieferungen gewesen waren. Sie wurde mit Medikamenten voll gepumpt, isoliert und missbraucht. An ihrem Beispiel lernte ich, wie man solche traumatischen Umstände überleben kann.


Zuerst fand Roz einen Job, dann eine Wohnung, weg von ihrer schwierigen Familie. Nach dem wir mehrere Monate miteinander gearbeitet hatten, stellt sie mich ihrem zukünftigen Ehemann vor, einem erfolgreichen Geschäftsmann, der sie bewunderte.


Zum Schluss unserer Therapie schenkte Roz mir ein silbernes Lesezeichen und eine Karte, auf der stand: "Danke, dass du an mich geglaubt hast."


Ich habe diese kleine Karte immer bei mir und werde sie auch für den Rest meines Lebens bei mir tragen, um mich immer daran zu erinnern, anderen Menschen ohne Vorurteile zu begegnen. Zu verdanken habe ich dies einer tapferen Frau und ihrem Triumph über eine "hoffnungslose"
Diagnose.
Judy Tatelbaum

Aus: "Hühnersuppe für die Seele - In Arbeit und Beruf
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

Wie oft ignorieren wir unsere eigene Wahrnehmung auf Grund Einflüsterungen von Experten?

Paulinchen

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