Sonntag, 7. Juni 2009

Die weiße Bibliothek

Gleich wird es los gehen. Ich bin sehr - das dürft ihr mir glauben - sehr aufgeregt. Und heute das erste Mal dabei.

Gestatten, ich - das ist ein kleines Buch mit schwarzem Ledereinband, Goldschnitt und 264 leeren Seiten. Als Tagebuch stehe ich hier - in der größten Buchhandlung der Stadt - zum Angebot.

Der letzte Kunde ist eben gegangen. die Buchhändlerin macht sich an der Kasse zu schaffen. In wenigen Minuten ist es soweit. Ladenschluss! Darauf haben alle gewartet. Heute, am 1. November, das jährliche Treffen der Bücher. Auf der ganzen Welt. An diesem Tag.

Viel Prominenz wird erwartet, und manche Überraschung steht bevor, denn schließlich nehmen nicht nur die im Laden zum Verkauf stehenden Bücher teil; es sind auch welche "von draußen" eingeladen, von ihren Erfahrungen, ihrem Wirken und Erleben zu berichten.

Ah, endlich! Da kommen die ersten. Nach und nach wird sich die Buchhandlung füllen, wird es eng werden.

Während die heute anwesenden Romane bereits Platz genommen haben, zieht soeben die glitzernde Schar der Luxusbände alle Blicke auf sich (...man ist ja schließlich auch nur Buch).

Verstohlene Blicke und hier und da Gekicher empfangen die Gruppe der erotischen Literatur; schmalbrüstig kommen Gedichtbände daher, und es halten behäbig, als trügen sie schwer am Wissen, mit dem sie vollgestopft sind, die Schul- und Fachbücher Einzug.

In einer Ecke plaudern fröhlich zerzauste Kinderbücher von draußen. Ihre Erfahrungen mit kleinen Händen sind ihnen deutlich anzusehen.

Weltmännisch präsentieren sich die Reiseführer: Man hat schon was gesehen vom Leben! Und die klug dreinschauenden Ratgeber achten auf strenge Trennung von der Gruppe der - manchmal zu verständnisvoll wirkenden - Lebenshilfebücher.

Doch jetzt heißt es zuhören. Der diesjährige Vorsitzende raschelt schon mit den Seiten und will mit der Eröffnungsrede beginnen.

Na ja, eine Weile wird es noch dauern, bis er sich Gehör verschaffen kann. Vor den Regalen der Buchwelt-Schickimicki geht es turbulent und locker zu.

Man fühlt sich wichtig, hält sich für etwas Besonderes. Dies oftmals allein aufgrund einer noblen Ausstaffierung oder weil man sich - hochgelobt in einem Feuilleton - nun sowieso, wie man heute so sagt, für "erste Sahne" hält.

Unruhig ist es auch bei den Büchern, die noch gar keine sind: Manuskripte, die als Gasthörer gekommen sind, Heute scheinen viele darunter zu sein, die meinen, sie als Buch würden später vieles anders und selbstverständlich besser machen. Diese Auffassung tun sie gerade lautstark kund.

Das alles ist typisch für die Buchwelt, aber ich vermute, bei euch Menschen geht es ähnlich zu.

Nun habe ich den Redeanfang verpasst ... na ja, das soll jedes Jahr das gleiche sein. So erzählten mir erfahrene Kollegen. Die üblichen Grußworte und Einführung in das Hauptthema. In diesem Jahr: "Die Phantasie-Diebe" - wie wir Fernsehgeräte und Videos nenne.

Und damit verbunden die alte Frage, ob wir Bücher in Konkurrenz mit diesen Medien überhaupt noch eine Chance haben.

"Schon seit Jahrzehnten hört man die Kassandra-Rufe über unsere düstere Zukunft" ereifert sich gerade der Vorsitzende. "Es ist bekannt, wieviel die Menschen in die Röhre gucken. Trotzdem glaube ich nicht, dass unsereins sang- und klanglos untergehen wird. Haben wir doch unsere Vorzüge! Wir stehen jederzeit zur Verfügung; man kann sich oberflächlich oder intensiv mit uns befassen. Ohne Zeitdruck. Wie es gewünscht ist.
Und wenn der Strom ausfällt, können wir bei Kerzenlicht immer noch zu Diensten sein, während die Glotze völlig ausfällt."

Recht hat er, meinst du nicht auch, lieber Leser? Vor allem aber vermitteln wir Wissen, wecken und trainieren eure Phantasie und muten euch zum Beispiel an Hauptpersonen, Handlungsplätzen keine fertig umgesetzten Produkte zu - wie das im Film der Fall ist.

Das habe ich geahnt! Murren in den Reihen der Bücher zum Film. Nun - geht es um die Existenz, lässt mancher seine Überzeugung sausen.

Irgendwo ist nämlich jeder stolz, sich im Bücherreigen mitzudrehen, obgleich das nicht immer befriedigend ist und manches Buch im nachhinein lieber unbedrucktes Papier geblieben wäre.

Das ist nicht nur so, weil viele von uns nicht oder oberflächlich gelesen werden.

(Stell dir vor, lieber Mensch, du fändest für deine Person keinen Interessenten. Oder nur einmal würde dir jemand sein Interesse leihen, dich "querlesen" und dann: ab mit dir ins Regal. Alle Jahre mal abgestaubt. Nie mehr beachtet. Ein kümmerliches Dasein. Und man hört, es gehe vielen Menschen so...)

Für uns Bücher ist die echte Misere, daß wir keinen Einfluss auf die Inhalte haben, die man zwischen unsere Buchdeckel bindet. Keine Wahl.

So sind wir nicht nur in totaler Abhängigkeit von euch Menschen: wir sind folgerichtig Spiegelbild und Ausdruck der Menschheit, des Zeitgeschehens.

Nicht allein unser Inhalt ist analog zu eurem Leben zu sehen, sondern auch unser Dasein zeigt euch: die Karrieren, die Flops, die Mittelmäßigkeit. Das Flüchtige oder das Dauerhafte.

Wir sind Informationsträger dessen, was menschlichem Geiste entspringt, denn Bücher werden immer von Menschen geschrieben; werden von Menschen gedruckt, gebunden, verkauft, gekauft, benutzt und gelesen.

Unsere Versammlung ist inzwischen weitergegangen. Nachdem der Duden über seine stete Veränderung und Modifizierung referiert hatte, hielten alle den Atem an, als sich ein Buch erhob, das einen rasanten Aufstieg hatte und dessen Inhalt vor gar nicht langer Zeit zu Terror- und Mordandrohungen gegen Autor, Verleger und Buchhandel geführt hatte. Sensibel für die aufkommende Spannung, wies es darauf hin, dass es allein nicht explosiv sei, sondern wiederum im Zusammenhang mit der Reaktion der Menschen. Bedrückte Stille herrschte, während dieser Kollege über seine Wirkung und Erlebnisse im In- und Ausland berichtete.

Gerade eben betritt das Buch, das die Grundlagen für das Tausendjährige reich enthält (welches dann, Gott sei Dank, von viel kürzerer Dauer war), die Bühne.

Dieser Veteran, dessen Geschichte ein eindringliches Beispiel eines Bücherlebens ist, erzählt von seinen anfänglichen Triumphen: viel beachtet, viel gelesen, in fast jedem Haushalt vertreten, große Presse!

Anfangs, so erläuterte er, habe ihm das sehr gefallen (ausgenommen die Tatsache, dass andere Bücher brannten), und er sei der Meinung gewesen, den großen Sprung zum Bestseller geschafft zu haben.

Diese Freude hab nicht lang gehalten, erzählt er weiter.

Bald schon - vielleicht doch ein wenig spät- wurde auf dem damaligen Treffen der Bücher weltweit deutlich, welche verheerende Wirkung sein Inhalt hatte. Von diesem Augenblick an gehörte er zu denjenigen unter uns, die ich anfangs erwähnte, die lieber ungedruckt geblieben wären.

Nach dem Ende jener Epoche wurde er von seinen einstigen emsigen Lesern total verachtet.
Seine Bedeutung als Buch schlug um - vom Star unter den Büchern zum "liber non gratus".

Du wirst dich schon eine Weile fragen, warum wir Bücher, hilflos und abhängig wie wir sind, uns überhaupt treffen. Protokolle dieser Zusammenkünfte aus aller Welt gelangen zur WEISSEN BIBLIOTHEK.

Nun wirst du von der weißen Bibliothek sicher nichts gehört haben.
Auch von uns hat sie niemand je gesehen. Keiner weiß genau wie sie aussieht wo sie steht und wie sie arbeitet.
Nicht einer jedoch zweifelt an ihrer Existenz und ihrem Einfluss.

Häufig ist es ihr gelungen, in Misstände einzugreifen, gefährliche Trends abzuwehren, zum Umdenken zu führen und Dinge positiv zu bewegen.

Hartnäckig hält sich die Überlieferung, die weiße Bibliothek stehe in einem großen Saal, dessen Wände voller Regale seien, die ausschließlich Bücher mit weißen, unbeschriebenen Seiten enthielten. Keine Textzeile, nicht ein Buchstabe sei dort zu lesen. Sie soll an einem geheimen Ort stehen. Trotzdem, so sagt man, gelangen viele Menschen dorthin, aber nicht hinein durch das Tor, an dem ein Schild verkündet: "Viele scheinen zu sehen und sehen doch nicht. Viele scheinen zu wissen und wissen doch nicht. Viele scheinen zu denken und denken doch nicht."

Andere sind der Auffassung, diese Bibliothek existiere nicht wirklich, sonder sei Symbol für Kraft, die an der Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft zu finden sei.

Und dass es möglich sei, aus dieser Energie - mit dem Wissen aus der Vergangenheit - Wege zu einer humanen, intakten und lebenswerten Welt zu schaffen.

Als sicher gilt: Sie ist jedem zugänglich.

... und vielleicht wohnt sie in eurem Denken und Handeln ... aber das, liebe Menschen, meint nur ein kleines schwarzes Tagebuch mit 264 unbedruckten Seiten.

Entnommen aus: "Der ganze Himmel steht uns zur Verfügung" Verschenk-Texte von Kristiane Allert-Wybranietz

1 Kommentar:

  1. Wieso ausgerechnet 264 Seiten ?
    5 Jahre deines Lebens bei einem Eintrag jede Woche?
    22 Jahre bei einem Eintrag jeden Monat?
    Nein, halt jetzt hab ichs. Jeden Wochentag einen Eintrag. 52,14 * 5 = 260 + 4 Tage Toleranz. Das Buch für ein ganzes Jahr?
    Scherz beiseite.
    Eine wirklich schöne Geschichte.
    Wo würde man das Gilgamesh Epos plazieren? Als Urquelle all unserer Literatur müsste es einen bedeutenden Platz innehaben.

    Ich wünsch dir eine schöne Woche.

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