Clara Meyer
Ein Rabenmann traf auf einem abgeernteten Kornfeld eine Rabenfrau. Da sie ihm gut gefiel und er sich eine Gefährtin wünschte, sagte er zu ihr: „Schenk mir deine Liebe!“
Die Rabenfrau fühlte sich zunächst geschmeichelt, sie war nämlich nicht mehr ganz jung, doch dachte sich bei sich: Wenn ich ihm meine Liebe gebe, dann habe ich selbst keine mehr. Denn sie war es nicht gewohnt, für das was sie gab, selbst auch etwas zu bekommen, und hatte daher das Geben eingestellt. Obwohl ihr der Rabenmann versprach, seine eigene Liebe gegen ihre zu tauschen, traute sie einem solchen Handel nicht und wies ihn ab.
Als aber der Winter nahte, fühlte sie sich sehr einsam. Sie wußte genug über die langen Winternächte, in denen das Grübeln kein Ende nimmt. Da fiel ihr das Angebot des Rabenmannes ein, und sie beschloß ihn zu suchen. Wochenlang flog sie vergeblich umher. Fast hätte sie schon aufgegeben, da fand sie ihn endlich vor einem alten Schuppen zwischen einigen Körben mit Fallobst. Sie machte ihm schöne Augen und erinnerte ihn an sein Angebot. Und da der Rabenmann immer noch Gefallen an ihr fand, willigte er ein und schenkte ihr einen Apfel. Die Rabenfrau pickte genüßlich hinein und dachte insgeheim: Sicher merkt er es nicht, wenn ich ihm nur einen kleinen Teil meiner Liebe gebe, dann bleibt mir der größere Anteil.
Sie blieben den Winter über zusammen und versorgten gemeinsam ihren Haushalt. Doch waren sie beide nicht so richtig glücklich. Sie waren zwar sehr freundlich zueinander und hilfsbereit, hatten auch niemals Streit, doch schien etwas Entscheidendes zu fehlen. Der Rabenmann spürte das besonders deutlich und drängte auf ein Gespräch. Doch die Rabenfrau ließ sich nicht darauf ein und tat seinen Eindruck als Hirngespinst ab. Geschickt vermied sie Gesprächen dieser Art, bis sie irgendwann nur noch über die Nahrungsuche miteinander redeten. Da sich jedoch alles in einer durchaus harmonischen Atmosphäre abspielte, fand sich der Rabenmann schließlich mit der Situation ab und stellte das Fragen ein. Er wurde mit der Zeit bequem und setzte sogar etwas Winterspeck an.
Als das Frühjahr kam, flog er öfter allein aus, um Material für ein neues Nest herbeizuschaffen. Dabei war ihm nicht einmal klar, ob die Rabenfrau überhaupt an einer festen Partnerschaft und Kindern interessiert war.
Auf einem seiner Ausflüge aber lernte er eines Tages ein hübsches Rabenmädchen kennen, und sie verliebten sich heftig ineinander. Er spürte plötzlich, wie es ist, wenn man die ganze Liebe von jemandem bekommt. Jetzt wußte er auch, was ihm eigentlich gefehlt hatte und daß er bisher um einen großen Teil der Liebe betrogen worden war.
Er stellte die Rabenfrau zur Rede und verlangte von ihr seine Liebe wieder zurück, da er sie nun einer anderen geben wolle. Die Rabenfrau fiel aus allen Wolken und stritt zunächst alles ab, denn sie hatte sich an das Leben mit ihm gewöhnt und wollte ihn nicht verlieren. Als er aber nicht lockerließ, gab sie endlich zu, daß sie ihm nur einen kleinen Teil ihrer Liebe gegeben hatte. Sie bereue dies und sei nun bereit, ihm alles zu geben. Während sie das sagte, merkte sie, daß es der Wahrheit entsprach. Jetzt, da er sie verlassen wollte, empfand sie plötzlich Liebe für ihn und wollte ihn behalten. Sie bot ihm ihren ganzen gehorteten Liebesvorrat an, doch er traute ihr nicht mehr und verschmähte das späte Geschenk. Er nahm seinen Teil zurück, von dem kaum etwas verbraucht war und flog davon.
Die Rabenfrau war nun sehr traurig. Sie hatte schmerzlich lernen müssen, daß man erst die eigene Liebe verschenken muß, um Platz für die eines anderen zu haben. Und ihr wurde klar: Wenn jeder seine Liebe verschenken würde, dann wäre wohl am Ende für alle genug da.
Den Sommer über blieb sie allein und dachte über diese Dinge nach. Dann nahm sie sich vor, mit ihrer neuen Erkenntnis im Herbst wieder das abgeerntete Kornfeld aufzusuchen und ohne egoistische Hintergedanken offen für die Liebe eines Rabenmannes zu sein.
Donnerstag, 28. Mai 2009
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen