Montag, 27. Juli 2009

Ein Freund am Telefon

Ein Leben ohne Freund ist wie ein Tod ohne Zeuge.
Spanisches Sprichwort

Noch bevor ich zu Ende gewählt hatte, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Es klingelte einmal, zweimal - dann nahm jemand den Hörer ab.
"Sie haben die falsche Nummer!", blaffte eine raue männliche Stimme. Verdattert wählte ich noch einmal.
"Sie haben die falsche Nummer, hab ich doch gesagt!", kam wieder die Stimme, und wieder drang nur noch das kurze Klicken des Hörers an mein Ohr, der eingehängt wurde.
Wieso wusste er, dass man mir eine falsche Nummer gegeben hatte? Damals arbeitete ich für die New Yorker Polizei. Ein Bulle ist darauf trainiert, neugierig zu sein - und sich einzumischen. Also wählte ich ein drittes Mal.
"Hey, was soll das?", sagte der Mann. "Schon wieder Sie?"
"Ja", erwiderte ich. "Ich hab mich gefragt, wieso Sie wussten, dass ich eine falsche Nummer hatte, obwohl ich noch gar nichts gesagt hatte."
"Na, dann überlegen Sie mal!" Wieder wurde der Hörer aufgeknallt.
Ich saß eine Zeit lang da und hielt den Hörer locker zwischen den Fingern. Ich rief den Mann zurück.
"Und? Haben Sie es jetzt kapiert?", fragte er.
"Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist ... dass niemand Sie je anruft."
"Genau!" Zum vierten Mal war die Leitung tot. Ich prustete vor mich hin und rief den Mann zurück.
"Und was wollen Sie jetzt?", raunzte er.
"Ich dachte, ich sollte mal anrufen ... einfach um Hallo zu sagen."
"Hallo? Und warum?"
"Na, wenn nie jemand Sie anruft, dachte ich, ich sollte es vielleicht mal tun."
"Na schön. Und wer sind Sie?"
Endlich war ich durchgekommen. Jetzt war er neugierig.
Ich erzählte ihm, wer ich war, und fragte ihn, wer er wäre.
"Adolf Meth mein Name. Ich bin achtundachtzig, und kein einziges Mal in den letzten zwanzig Jahren hat jemand sich bei mir so oft verwählt!" Wir lachten beide.
Wir unterhielten uns gut zehn Minuten. Adolf hatte keine Familie, keine Freunde. Alle, die ihm nahe gestanden hatten, waren gestorben. Dann entdeckten wir, dass wir etwas gemeinsam hatten: Auch er hatte fast vierzig Jahre lang, für die New Yorker Polizei gearbeitet. Als er mir über seine Zeit als Fahrstuhlführer dort erzählte, schien er interessiert, ja freundlich. Ich fragte ihn, ob ich ihn wieder anrufen dürfte.
"Warum wollen Sie das tun?", fragte er überrascht.
"Vielleicht können wir Telefonfreunde sein. Sie wissen schon, so ähnlich wie Brieffreunde."
Er zögerte. "Ich hätte nichts dagegen ... wieder einen Freund zu haben." Seine Stimme klang ein wenig unentschlossen.
Ich rief Adolf am nächsten Nachmittag an und auch ein paar Tage später. Man konnte sich gut mir ihm unterhalten, und er erzählte von seinen Erinnerungen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg, an das Desaster mit Hindenburg und andere historischen Ereignisse. Er war faszinierend. Ich gab ihm meine private Telefonnummer und die vom Büro, sodass er mich anrufen konnte. Was er tat - fast täglich.
Es war nicht einfach nur Freundlichkeit gegenüber einem einsamen alten Mann. Die Gespräche mir Adolf waren wichtig für mich, denn auch ich hatte eine große Lücke in meinem Leben. Ich war in Waisenhäusern und bei Pflegefamilien groß geworden und hatte nie einen Vater gehabt. Nach und nach bekam Adolf für mich so etwas wie eine väterliche Bedeutung. Ich erzählte ihm von meinem Job und von den College-Kursen, die ich abends besuchte.
Adolf wuchs in die Rolle des Beraters hinein. Als wir über eine Meinungsverschiedenheit mit einem Vorgesetzen sprachen, bemerkte ich zu meinem neuen Freund: "Ich glaube, ich sollte die Sache ein für alle mal mit ihm klären."
"Warum die Eile?", meinte Adolf warnend. "Lass die Dinge sich beruhigen. Wenn du so alt bist, wie ich jetzt bin, weißt du, dass die Zeit vieles regelt. Wenn es schlimmer wird, kannst du immer noch mit ihm reden."
Es blieb lange still zwischen uns. "Weißt du", sagte er leise, "ich rede mit dir, wie ich mit meinem eigenen Jungen reden würde. Ich hab mir immer eine Familie gewünscht - und Kinder. Du bist zu jung, um zu wissen, wie sich das anfühlt.
Nein, ich war nicht zu jung. Ich hatte mir immer eine Familie gewünscht - und einen Vater. Aber ich sagte nichts; ich hatte Angst, den Schmerz nicht zurückhalten zu können, den ich schon so lange in mir fühlte.
Eines Abends erwähnte Adolf, dass er bald neunundachtzig würde. Ich kaufte ein Stück Holzfaserplatte und malte eine große Geburtstagskarte mit einem Kuchen und neunundachtzig Kerzen. Dann bat ich alle Polizisten meiner Dienststelle und sogar den Polizeichef, die Karte zu unterschreiben. Ich sammelte an die hundert Unterschriften. Ich wusste, dass das Adolf einen Riesenauftrieb geben würde.
Wir unterhielten uns jetzt seit vier Monaten am Telefon, und ich dachte, der Geburtstag wäre der richtige Zeitpunkt, sich persönlich kennen zu lernen. Deshalb beschloss ich, die Karte selbst zu überbringen.
Ich sagte Adolf nicht, dass ich kommen würde; ich fuhr einfach eines Morgens zu seiner Adresse und parkte das Auto ein Stück entfernt von dem Mietshaus, in dem er wohnte.
Ein Briefträger verteilte im Flur die Post, als ich das Gebäude betrat. Er nickt, als ich auf den Briefästen Adolfs Namen suchte. Da war er. Apartment 1 H, gerade einmal sechs Meter von da, wo ich stand.
Mein Herz hämmerte vor Aufregung. Würde die Chemie zwischen uns bei der persönlichen Begegnung genauso stimmen wie am Telefon? Ich spürte die ersten stechenden Zweifel. Vielleicht würde er mich genauso zurückweisen wie mein Vater? Ich klopfte an Adolfs Tür. Als niemand antwortete, klopfte ich fester.
Der Postbote sah von seinen Briefen auf. "Da ist keiner", meinte er.
"Ja", sagte ich und kam mir ein bisschen albern vor. "Wenn er an der Tür so antwortet wie am Telefon, kann das den ganzen Tag dauern."
"Sind Sie ein Verwandter oder was?
"Nein. Nur ein Freund."
"Tut mir wirklich Leid", sagte er ruhig, "Aber Mr. Meth ist vorgestern gestorben."
Gestorben? Adolf? Einen Augenblick lang verschlug es mir die Sprache. Schockiert und ungläubig stand ich da. Dann riss ich mich zusammen; ich dankte dem Briefträger und trat in die spätvormittägliche Sonne hinaus. Mit feuchten Augen ging ich zu meinem Auto.
Als ich um eine Ecke bog, sah ich eine Kirche, und eine Zeile aus dem Alten Testament fiel mir ein: Ein Freund liebt allezeit. Besonders im Tod, wurde mir klar. In diesem Augenblick hatte ich eine Erkenntnis. Oft bemerken wir erst, wie schön es ist, dass ein bestimmter Mensch in unserem Leben ist, wenn plötzlich etwas Trauriges passiert. Ich spürte jetzt zum ersten Mal, wie nah Adolf und ich uns gekommen waren. Es war mir leicht gefallen, und ich wusste, dass es mir beim nächsten Mal, mit meinem nächsten guten Freund, noch leichter fallen würde.
Langsam spürte ich, wie mir innerlich ganz warm wurde. Ich hörte Adolfs brummige Stimme schnauben: "Sie haben die falschen Nummer!" Dann hörte ich ihn fragen, warum ich wieder anrufen wollte.
"Weil du wichtig warst, Adolf" sagte ich laut zu mir selbst. "Weil ich dein Freund war."
Ich legte die Geburtstagskarte auf den Rücksitz meines Wagens und setzte mich ans Steuer. Bevor ich den Motor anließ, sah ich über die Schulter nach hinten. "Adolf" flüsterte ich, "ich hab nicht die falsch Nummer bekommen. Ich habe dich bekommen."
Jennings Michael Burch

Aus: "Hühnersuppe für die Seele Weitere Geschichten, die zu Herzen gehen"
Jack Canfield/Mark Victor Hansen

Egal wie oft ich diese Geschichte lese, sie berührt mich immer wieder auf´s Neue.

1 Kommentar:

  1. Ich sag das jetzt nicht, um Dich zu ärgern, oder um mich zu profilieren. Mehr als Hinweis auf strukturelle Eigenheiten dieses Erzählgenres: Ich wußte nach der ersten Hälfte des Erzählsels, wie es weiter gehen wird. Warum wohl? Und was heißt das hinsichtlich des erzählerischen Manipulationsversuchs (natürlich immer zu einem guten Zweck!)
    Wenn die Erzählung nach der ersten Hälfte geendet hätte, wäre sie so gut geworden wie die Sichtung des Altersproblems aus der Kinderperspektive.(siehe oben)
    So aber merkt man die Absicht und ist verstimmt.

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