Sonntag, 12. Juli 2009

Omas Garten

Jedes Jahr pflanzte meine Großmutter Tulpen in ihrem Blumengarten und sah mit kindlicher Vorfreude deren Frühlingspracht entgegen. Unter ihrer liebevollen Obhut schossen sie in jedem April pflichtgetreu empor, und sie wurde nie enttäuscht. Aber sie sagte, die eigentlichen Blumen, die ihr Leben schmückten, seien ihre Enkel.
Ich allerdings wollte da nicht gleich mitspielen.
Man schickte mich zu meiner Großmutter, bei der ich vorübergehend wohnen sollte, als ich sechzehn Jahre alt war. Meine Eltern lebten in Übersee, und ich war ein sehr schwieriges Mädchen, voller Ärger über sie wegen ihrer Unfähigkeit, mit mir fertig zu werden oder mich zu verstehen. Ich war ein unglücklicher Teenager und drauf und dran, die Schule abzubrechen.
Oma war eine sehr kleine Frau, turmhoch überragt von ihren eigenen Kindern und deren noch nicht erwachsenen Sprösslingen. Und sie besaß eine klassische, altmodischen Anmut. Sie hatte dunkles Haar und eine elegante Frisur. Ihre klaren Augen waren von reinstem Blau; sie strahlten vor Energie und innerer Stärke. Sie war ihrer Familie gegenüber absolut loyal, und sie liebte so tief und aufrichtig wie ein Kind. Trotzdem war ich der Meinung, ich würde meine Großmutter leichter ignorieren können als meine Eltern.
Schweigend zog ich in ihr bescheidenes Bauernhaus ein; mit tief gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen schlich ich umher wie ein misshandeltes Tier. In Bezug auf andere hatte ich resigniert und mir einen dicken Panzer zugelegt. Ich wollte einfach keiner anderen Seele den Zutritt zu meiner privaten Welt gestatten, denn meine größte Angst bestand darin, dass jemand meine wunden Punkte entdecken könnte. Ich war überzeugt, das Leben sei ein erbitterter Kampf, den man besser ohne fremde Hilfe durchfechten sollte.
Ich erwartete nichts von meiner Großmutter, als dass sie mich in Ruhe ließ, und beabsichtigte, ebendies und nichts sonst zu akzeptieren. Sie gab jedoch nicht so leicht auf.
Die Schule begann, aber ich nahm nur manchmal am Unterricht teil. Den Rest meiner Zeit verbrachte ich im Pyjama in meinem Schlafzimmer, wo ich gelangweilt in den laufenden Fernseher stierte. Ohne dies zu beachten, stürmte Oma jeden Morgen zu meiner Tür herein wie ein unwillkommener Sonnenstrahl.
"Guten Morgen!", flötete sie dann und zog fröhlich die Jalousien an meinem Fenster hoch, Ich zerrte mir meine Decke über den Kopf und ignorierte sie.
Wenn ich tatsächlich aus meinem Schlafzimmer hervorgekrochen kam, wurde ich von ihr mit einer Reihe gut gemeinter Fragen bombardiert, die meine Gesundheit, meine Gedanken und mein Ansichten über die Welt im Allgemeinen betrafen. Ich murmelte einsilbige Antworten, aber irgendwie ließ sie sich nicht entmutigen. Ja, genau genommen verhielt sie sich so, als ob meine geknurrten, bedeutungslosen Erwiderungen sie faszinierten. Sie hörte mir mit so viel Ernst und Interesse zu, als wären wir in ein intensives Gespräch vertieft, in dem ich gerade ein spannendes Geheimnis enthüllt hatte. Bei jenen seltenen Anlässen, wo ich zufällig mehr als bloß einsilbige Antwort gab, klatschte sie erfreut in die Hände und lächelte über das ganze Gesicht, als hätte ich ihr ein großartiges Geschenk gemacht.
Zunächst hatte ich den Verdacht, dass sie es einfach nicht kapierte. Doch obwohl sie keine besondere Schulbildung hatte, spürte ich, dass sie durchaus intelligent war. Sie hatte als Achtzehnjährige während der großen Depression geheiratet. In diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten hatte sie als Köchin gearbeitet, schließlich ein eigenes Restaurant eröffnet und nebenbei fünf Kinder großgezogen. Dabei hatte sie sich durchaus die nötigen Kenntnisse in Bezug auf das Leben angeeignet.
Darum hätte ich eigentlich nicht überrascht zu sein brauchen, als sie verlangte, ich solle lernen, Brot zu backen. Ich stellt mich beim Kneten derart dämlich an, dass Oma diesen Teil übernahm. Ich durfte aber die Küche erst verlassen, wenn der Brotteig zum Aufgehen hergerichtet war. In genau diesem Momenten, wo sie auf etwas anderes konzentriert war und ich den Blumengarten draußen vor dem Küchenfenster anstarrte, begann ich mit ihr zu reden. Sie hörte mit solcher Gespanntheit zu, dass ich hin und wieder ganz verlegen wurde.
Allmählich, während mir klar wurde, dass das Interesse meiner Großmutter an mir nicht nachließ, öffnete ich mich ihr immer mehr. Ich begann, mich insgeheim unbändig auf unsere Gespräche zu freuen.
Es schien, als sei ein Damm gebrochen. Plötzlich liebte ich es, zu reden. Ich begann, regenmäßig die Schule zu besuchen, und eilte jeden Nachmittag nach Hause, wo sie schon, in ihrem vertrauten Sessel sitzend, lächelnd darauf wartete, dass ich ihr detailliert über jede Minute meines Tages berichtete.
Eines Tages in meinem ersten Schuljahr auf der High School stürmte ich zur Tür herein und verkündete ihr: "Sie haben mich zur Chefredakteurin der High-School-Zeitung gewählt!
Meine Oma hielt den Atem an und schlug die Hände vor den Mund. Bewegter, als ich es hätte sein können, nahm sie meine beiden Hände in die ihren und drückte sie heftig. Ich sah ihr in die Augen, die wie verrückt funkelten. Sie sagte: "Ich hab dich sehr lieb, und bin sehr stolz auf dich!"
Ihre Worte trafen mich mit solcher Wucht, dass ich nicht antworten konnte. Diese Worte bewegten bei mir mehr als tausend "Ich-liebe-dich"-Beteuerungen. Ich wusste: Ihre Liebe war bedingungslos, doch ihre Freundschaft und ihren Stolz musste man sich verdienen. Dass ich beides von dieser unglaublichen Frau erhielt, löste in mir etwas aus. Ich begann, mich zu fragen, ob es denn tatsächlich etwas Liebenswertes und Wertvolles an mir gebe. Sie weckte in mir den Wunsch, mein eigenes Potenzial zu entdecken, und gab mir einen Grund, es zuzulassen, dass andere meine wunden Punkte kannten.
An diesem Tag beschloss ich zu versuchen, so zu leben wie sie - voller Energie und Intensität. Plötzlich entbrannte in mir das Verlangen, die Welt, mein Inneres und die Herzen anderer zu erkunden, so uneingeschränkt und bedingungslos zu lieben wie sie bisher. Und mir wurde klar, dass ich sie liebte - nicht weil sie meine Großmutter war, sondern weil sie eine wundervolle Person war, weil sie mir beigebracht hatte, wie man für sich selbst und für andere sorgt.
Meine Großmutter starb im Frühling, fast zwei Jahre nachdem ich gekommen war, um bei ihr zu wohnen, und zwei Monate, bevor ich an der High School die Abschlussprüfung bestand.
Sie starb umringt von ihren Kindern und Enkeln, die sich an den Händen hielten und eines von Liebe und Glück erfüllten Lebens gedachten. Bevor sie diese Welt verließ, beugte sich jeder von uns über ihr Bett und küsste sie zärtlich. Als ich an die Reihe kam, küsste ich sie sanft auf die Wange, nahm ihre Hand und flüsterte: "Ich hab ich sehr lieb, Oma, und ich bin sehr stolz auf dich!"
Jetzt, während ich mich auf meine Graduierung am College vorbereite, denke ich oft an die Worte meiner Großmutter, in der Hoffnung, dass sie noch immer stolz auf mich ist. Ich staune über die Güte und Geduld, mit der sie mir half, aus einer schwierigen Kindheit herauszukommen und zu einer friedvollen jungen Frau zu werden. Ich stelle mir Oma im Frühling vor, während die Tulpen in ihrem Garten und wir, ihre Sprösslinge, noch immer mit einer Begeisterung blühen, mit der nur ihre eigene sich messen kann. Und ich arbeite weiter, um sicherzustellen, dass sie nie enttäuscht wird.
Lynnette Curtis

Gefunden in: "Noch mehr Hühnersüppchen für die Seele" von Jack Canfield/Mark Victor Hansen


Viel zu oft suchen wir uns Vorbilder, die weit von uns entfernt sind und übersehen dabei die, die uns als Vorbild dienen könnten, welche in unserem unmittelbaren Umfeld leben.

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