Freitag, 17. Juli 2009

Die magischen Steine

Ständiges Nachdenken ist es, was
unser Leben bestimmt. Es beeinflusst
uns mehr als selbst unsere intimsten
Beziehungen. Unsere engsten Freunde
formen unser Leben weniger als die
Gedanken, die wir haben.
J.W.Teal

"Warum müssen wir all diese blöde Zeug lernen?"
Von allen Beschwerden und Fragen, die ich während meiner Jahre als Lehrer zu hören bekam, war dies eine der häufigsten. Ich pflegte sie mit folgender Geschichte zu beantworten:

Eines Abends bereitete sich eine Gruppe von Nomaden zum Schlafen vor, als sie plötzlich von einem überwältigenden Licht umgeben waren. Sie wussten, dass dies die Anwesenheit eines göttlichen Wesens bedeutete. Mit großer Spannung erwarteten sie nun eine himmlische Botschaft von großer Wichtigkeit, die, wie sie wussten, speziell für sie bestimmt sein musste.
Schließlich sprach eine Stimme: "Sammelt so viele Kieselsteine, wie ihr nur könnt. Steckt sie in eure Satteltaschen. Reitet morgen einen ganzen Tag lang, und am Abend werdet ihr glücklich und zugleich traurig sein."
Nachdem die Erscheinung verschwunden war, waren die Nomaden enttäuscht und verärgert. Sie hatten die Offenbarung einer gewaltigen und umfassenden Wahrheit erwartet, die sie befähigen würde, Wohlstand und Gesundheit in der Welt zu schaffen und dem Leben einen Sinn zu geben. Aber statt dessen wurde ihnen eine niedrige Arbeit zugemutet, die für sie völlig sinnlos war. Trotzdem, der Eindruck, den der Glanz ihres himmlischen Besuchers bei ihnen hinterlassen hatte, bewog doch jeden, ein paar Kieselsteine aufzuheben und sie in die Satteltasche zu stecken, während sie noch immer ihrem Missvergnügen Ausdruck verliehen.
Sie ritten dann den ganzen Tag lang, und als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, griffen sie in ihre Satteltaschen und entdeckten, dass jeder Kieselstein, den sie gesammelt hatten, zu einem Diamanten geworden war. Nun waren sie glücklich, dass sie Diamanten hatten. Und sie waren traurig, dass sie nicht mehr Kieselsteine gesammelt hatten.

Eine Erfahrung, die ich mit einem Schüler - ich nenne ihn einmal Alan - in meinen Anfangsjahren als Lehrer machte, veranschaulicht für mich den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte.
Als Alan in die achte Klasse kam, war sein Hauptfach Schwierigkeiten bereiten und sein Nebenfach Nichtstun. Er hatte nur gelernt, den brutalen Maulhelden zu spielen, und er hätte jedes Abschlussexamen in Verlogenheit mit Auszeichnung bestanden.
Jeden Tag ließ ich meine Schüler ein Zitat von einem bedeutenden Denker auswendig lernen. Es war meine Methode, ihre Anwesenheit zu kontrollieren. Ich rief einen Namen auf und begann mit dem Anfang eines Zitats. Von dem jeweiligen Schüler wurde erwartet, es zu Ende zu führen.
"Alice Adams: >Es gibt kein Versagen, es sei denn..."
"...du gibst auf.< Anwesend, Mr Schlatter."
Und so hatten sich am Ende des Jahres meine jungen Schützlinge rund hundertfünfzig wichtige Sätze eingeptägt.
"Glaube, du kannst es, glaube, du kannnst es nicht - in jedem Fall hast du recht."
"Wenn du die Hindernisse siehst, hast du das Ziel aus den Augen verloren."
"Ein Zyniker ist jemand, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert."
Und dann natürlich Napoleon Hills: "Was du begreifen und glauben kannst, das kannst du auch erreichen."
Niemand beschwerte sie über diese tägliche Routine mehr als Alan - doch er wurde schließlich aus der Schule hinausgeworfen, und ich verlor ihn für fünf Jahre aus den Augen. Aber eines Tages tauchte er wieder auf. Er nahm an einem speziellen Programm an einem benachbarten College teil und hatte gerade eine Haftstrafe und seine Bewährungszeit hinter sich.
Alan erzählte mir, er sei, nachdem er erst in ein Erziehungsheim und dann in die Jugendstrafanstalt gesteckt worden war, so angewidert von sich selbst gewesen, dass er eine Rasierklinge genommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.
"Wissen Sie was, Mr. Schlatter", sagte er dann, "als ich da so lag und mir das Leben aus dem Körper rann, fiel mir plötzlich dieses blöde Zitat ein, das Sie mich früher einmal zwangigmal hintereinander schreiben ließen. >Es gibt kein Versagen, es sei denn, du gibst auf.< Plötzlich ergab das einen Sinn für mich. Solange ich lebte, war ich also kein Versager, wenn ich mich aber umbrachte, würde ich mit Sicherheit als Versager sterben. also rief ich mit all meinen verbliebenen Kräften um Hilfe und begann ein neues Leben."
Als Alan damals das Zitat gehört hatte, war es nur ein Kieselstein gewesen. Als er im kritischen Moment Hilfe brauchte, war es zu einem Diamanten geworden. Und so liegt es an Ihnen zu sagen: "Sammle alle Kieselsteine, die du finden kannst, so kannst du auf eine mit Diamanten gefüllte Zukunft zählen."
John Wayne Schlatter

Aus: "Noch mehr Hühnersuppe für die Seele"
Jack Canfield/Mark Victor Hansen

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