Freitag, 7. Januar 2011

Billy

Die entscheidenden Schlachten finden in einem selbst statt.
Sheldon Koggs

Es liegt schon einige Zeit zurück (1983-1987), dass ich die Gelegenheit hatte, den Ronald McDonald für die Schnellrestaurantkette McDonald's zu spielen. Mein Gebiet erstreckte sich fast über ganz Arizona und einen Teil von Südkalifornien. 

Zu unserem Standardrepertoire gehörte der "Ronald-Tag". Einen Tag im Monat besuchten wir möglichst viele städtische Krankenhäuser, um ein wenig Freude an einen Ort zu bringen, wo niemand freiwillig ist. Ich war stolz darauf, Kinder und Erwachsene, die gerade eine schwierige Zeit durchmachten, ein wenig aufmuntern zu können. Die Wärme und Dankbarkeit, die ich empfing, spürte ich hinterher noch wochenlang. Ich liebte das Projekt, McDonald's liebte das Projekt, die Patienten liebten es und ebenso die Krankenschwestern und das medizinische Personal.

Zwei Dinge waren mir während eines Besuchs nicht erlaubt. Erstens, ich durfte nirgendwo hingehen ohne dabei von McDonald's-Personal (meine Handlanger) und Krankenhausmitarbeitern begleitet zu werden. Diese Vorschrift sollte sicherstellen, dass jemand da war, wenn ich das Zimmer betrat und ein Kind vielleicht Angst vor mir bekam. Zweitens durfte ich niemanden im Krankenhaus anfassen, damit ich keine Keime von einem Patienten auf den anderen übertrug. Ich verstand, warum es dieses Berührungsverbot gab, aber ich mochte es überhaupt nicht. Ich glaube, Berührung ist die ehrlichste Form der Kommunikation. Gesprochene und geschriebene Wörter können lügen, nicht aber eine herzliche Umarmung.
Wenn ich mich nicht an diese Regeln hielt, lief ich Gefahr, meinen Job zu verlieren.
Es war gegen Ende meines vierten Jahres als Ronald McDonald. Ich schlurfte nach einem langen Tag mit verschmierter Schminke den Flur in Richtung Feierabend entlang, als ich eine Kinderstimme hörte. "Ronald, Ronald".

Ich blieb stehen. Das sanfte Stimmchen war aus einem Zimmer gekommen, dessen Tür halb offen stand. Als ich die Tür weit aufmachte und in das Zimmer schaute, sah ich einen Jungen, ungefähr fünf Jahre alt, im Arm seines Vaters liegen. Er war an so viele medizinische Geräte angeschlossen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Mutter saß auf der anderen Seite, ebenso seine Oma und sein Opa. Eine Krankenschwester kümmerte sich um die Geräte.

An der Atmosphäre im Raum war zu spüren, dass die Situation ernst war. Ich fragte den kleinen Jungen nach seinem Namen. Er sagte, sein Name sei Billy - und ich führte ihm ein paar einfache Zaubertricks vor. bevor ich mich verabschieden wollte, fragte ich Billy, ob ich noch etwas für ihn tun könnte.

"Ronald, kannst du mich auf den Arm nehmen?"

Eine einfache Bitte, aber durch meinen Kopf schoss die Angst, vielleicht meinen Job zu verlieren, wenn ich ihn berührte. Ich sagte zu Billy, dass ich ihm diesen Wunsch leider nicht erfüllen konnte, und schlug ihm vor, stattdessen mit mir ein Bild auszumalen. Nachdem wir ein wunderschönes Kunstwerk geschaffen hatten, auf das wir beide sehr stolz waren, fragte mich Billy erneut, ob ich ihn nicht auf den Arm nehmen könnte. Zu diesem Zeitpunkt schrie mein Herz: "Ja!", aber mein Verstand schrie lauter: "Nein! Du könntest deinen Job verlieren."

Nachdem er das zweite Mal gefragt hatte, fing ich an zu überlegen, warum ich diesem Jungen, der höchstwahrscheinlich nicht wieder nach Hause kommen würde, nicht seinen einfachen Wunsch erfüllen konnte. Ich fragte mich, warum ich auf einmal ein logisches und emotionales Problem hatte, hervorgerufen durch jemanden, den ich nie zuvor gesehen hatte und wahrscheinlich auch nie wiedersehen würde.

"Halt mich." Es war eine so einfache Bitte, und doch...

Ich begann nach einem vernünftigen Grund zu suchen, der es mir erlauben würde, mich zu verabschieden. Aber es gab keinen. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass der Verlust meiner Arbeit nicht die Katastrophe wäre, die ich befürchtete.

Gab es nichts Schlimmeres in der Welt, als dass ich meinen Job verlieren würde?
Habe ich genug Selbstvertrauen, einen anderen Job zu finden, wenn ich diesen verlieren sollte? Die Antwort war ein klares, lautes und bekennendes "Ja!" Ich konnte damit fertig werden und einen neuen Anfang machen.

Was war also das Risiko?

Wenn ich meine Arbeit verlöre, würde ich über kurz oder lang auch mein Auto verlieren und dann mein Haus... und um ehrlich zu sein, ich hing an diesen Dingen. Ich erkannte aber auch, dass ich mein Auto nicht mitnehmen konnte, wenn ich starb und auch das Haus nicht. Das Einzige, was bleibenden Wert hatte waren meine Erfahrungen. Als ich mich daran erinnerte, dass der wahre Grund meiner Anwesenheit an diesem Ort darin lag, ein wenig Freude in eine trostlose Umgebung zu bringen, sah ich, dass ich eigentlich überhaupt kein Risiko einging.

Ich schickte Mutter, Vater, Oma und Opa aus dem Raum und meine beiden McDonald's-Begleiter zum Wagen. Die Krankenschwester, die die medizinischen Geräte bediente, durfte bleiben, aber Billy bat sie, sich umzudrehen und in die Ecke zu schauen. Dann nahm ich das kleine Menschenkind hoch auf den Arm. Es war so zerbrechlich und ängstlich. Wir lachten und weinten fast eine Stunde lang und sprachen dabei über das, was ihn bedrückte.

Billy hatte Angst, dass sein kleiner Bruder im nächsten Jahr nicht vom Kindergarten nach Hause finden könnte, wenn er ihm nicht den Weg zeigte. Er machte sich Sorgen, dass der Hund keinen Knochen mehr bekommen würde, weil er sie im Haus versteckt hatte und sich jetzt nicht mehr erinnern konnte, wo sie waren.

Diese Art von Problemen hat ein kleiner Junge, der weiß, dass er niemals wieder nach Hause kommen wird.

Bevor ich ging, gab ich  - mein Make-up war von Tränen verschmiert - seinen Eltern meinen wirklichen Namen und meine Telefonnummer (ein weiterer Kündigungsgrund für einen Ronald McDonald, aber ich sah mich eh schon gekündigt und hatte nichts mehr zu verlieren). Falls ich oder MCDonald's irgendetwas tun könnten, sollten sie mich anrufen und davon ausgehen, dass die Sache erledigt wird.
Noch nicht einmal zwei Tage später erhielt ich einen Anruf von Billys Mutter. Sie teilte mir mit, dass Billy gestorben war. Sie und ihr Mann wollten sich bei mir für das bedanken, was ich für ihren Sohn getan hatte.

Kurz nachdem ich gegangen war, habe Billy sie angeschaut und gesagt: "Momma, es ist egal, ob ich Santa Claus dieses Jahr sehe oder nicht, denn ich habe bei Ronald MCDonald auf dem Schoss gesessen."
Manchmal müssen wir das tun, was sich im Moment richtig anfühlt, ohne auf das damit verbundene Risiko zu schauen. Nur Erfahrungen sind von bleibendem Wert, und der wichtigste Grund, warum die Menschen ihre Erfahrungen begrenzen, liegt in dem mit ihnen verbundenen Risiko.

Der Ordnung halber sei gesagt, dass die Sache mit mir und Billy herauskam. Da es sich um besondere Umstände handelte, durfte ich meinen Job jedoch weitermachen. Ich bleib also noch ein Jahr lang Ronald McDonald, dann verließ ich das Unternehmen, um Billys Geschichte zu erzählen und zu zeigen, wie wichtig es sein kann, ein Risiko einzugehen.
Jeff McMullen


Aus: "Hühnersuppe für die Seele - In Arbeit und Beruf"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen


Ohne moralisch erhobenen Finger, lehrt uns diese Geschichte, worauf es im Leben ankommt. Wie oft geschieht es im Leben eines jeden Menschen, dass wir uns an vorgegebene (zum Teil nutzlose, irrsinnige) Regeln halten und hinterher bedauern, nicht über unseren Schatten gesprungen zu sein?  In meinem Leben sind das die Momente, die ich mir nur mit äußerster Anstrengung verzeihen kann, wenn überhaupt. Andererseits haben mich diese vergeigten Situationen bewusster werden lassen, so dass ich jetzt in der Lage bin, die aus meinem Handeln entstehenden Konsequenzen abzuwägen und meine Entscheidungen selbstbestimmt treffen kann.

"Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!"


Am Ende zählt nur was wir aus den gemachten Erfahrungen gelernt haben.


Paulinchen

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