Freitag, 15. Oktober 2010

Ein Lebenswerk

Einst lebte ein junger Maler im 'weiten Land'. Alles, was er besaß, waren ein altes, großes Haus und ein Brummen.
Die Wasserstelle, nur wenige Meter vom Haus entfernt, sorgte dafür, dass rings um das Gebäude einige dürftige Pflanzen, Büsche und Bäume gediehen. Mit viel Mühe baute der junge Maler auf einem Feld auch Obst, Gemüse und Mais an, um sich zu ernähren.
Abgesehen von dieser grünen Insel war die Gegend um das Haus ausgetrocknet, unfruchtbar und wüstengleich. Seit Jahren war kein Regen niedergegangen, weshalb das Land, soweit das Auge reichte, in grau-weiß-gelber Eintönigkeit ausgestreckt lag.
Auch die Ziegel des Hauses waren durch die immerwährende Sonnenglut schließlich gebleicht, so dass die Wüste auf diese Art schon einen Vorboten in das Herz der Oase entsandt hatte. 
Das sah auch der junge Maler, als er eines Morgens vom Wasserholen zum Haus zurückging. Dennoch begab er sich  - wie immer - an sein Tagwerk und malte. Er malte auch in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten. Er malte so lange, bis ihm die Leinwand ausging und auch sein Vorrat an Ölfarben sich dem Ende zuneigte.
Mit jedem Tag jedoch, da er den Weg vom Brunnen zum Haus zurücklegte, wuchs in ihm der Entschluss, der Wildnis ihren Triumph nicht zu gönnen.
Als dann sein letztes Bild vollendet worden war, erkannte der Maler, dass er keine Leinwand mehr brachen würde. Er wollte von nun an sein Haus bemalen, um durch die Lebendigkeit seiner Farben der Natur zu trotzen. Doch die einzigen Farben, die ihm geblieben waren, fanden sich in einigen großen  Aquarell-Farbkästen, die lange Zeit unbeachtet in einem Winkel des Ateliers gelegen hatten.
Als er aber beginnen wollte, überkamen den Künstler Zweifel, ob es ihm überhaupt möglich sei, sein Vorhaben zu verwirklichen.
Das größte Wagnis schien ihm, das Haus in die so leicht vergänglichen Aquarell-Farben zu kleiden. Jedoch ein Blick zum strahlend blauen Himmel zerstreute seine Ängste vor möglichen Regenfällen.
Auch andere Schwierigkeiten überwand der Maler. Manche Probleme lösten sich gar von selbst: So etwa die Frage, welche Themen er überhaupt auftragen sollte; denn er begann einfach zu malen.
Dies geschah aus der Hochstimmung, eine große Aufgabe bewältigen zu wollen, die sich ihm bislang noch nicht gestellt hatte. Und er ahnte, dass er sich an kein enges Thema zu halten brauchte, wenn er einfach seine Erfahrungen darstellen würde.
Er grundierte, legte Konturen an und malte. Er schlief nur noch kurze Zeit, um das Tageslicht so intensiv wie möglich für seine sorgfältige Arbeit auszunutzen. Und die Sonne schien lange im 'weiten Land'.
Kaum noch fand der Künstler Zeit, sich um seinen Garten und sein Feld zu kümmern - so sehr war er mit seiner Malerei beschäftigt.
Auf dem ehemals bleichen Mauerwerk entfaltete sich mit den Monaten und Jahren ein - aus der Nähe betrachtet - unüberschaubarer Reigen von Figuren, Landschaften und Kompositionen, die abstrakte Empfindungen verkörperten.
Demgegenüber fanden sich die einzelnen Episoden - aus der Fernen betrachtet - zu einem geordneten Ganzen zusammen, was selbst den Maler, der ja all das geschaffen hatte, erstaunte und nachdenklich stimmte.
Er war älter geworden, und noch immer zeigte sich nicht einmal die Hälfte der zur Verfügung stehenden Fläche bemalt.
Dadurch, dass er nun seinen Wünschen und Hoffnungen auf den Wänden Gestalt verlieh, war es dem Maler möglich, sich von seiner Persönlichkeit zu lösen und sein Selbst mit dem auf der Wand zu vergleichen. Durch diese Wechselbeziehung, in welcher er mit seinen Schöpfungen trat, wurde er angeregt, immer neue Formen und Gestalten hervorzubringen.
In den ersten Jahren dachte er nur selten an den Regen: Zu ungewohnt war diese Erscheinung im 'weiten Land'.
Später dann, als das Werk schon weiter fortgeschritten war, ertappte sich der Maler des öfteren dabei, wie sein Blick zum Himmel wanderte. Unruhe überfiel ihn, wenn sich nur die kleinste Wolke zeigte.
Als er etwa die Hälfte der Fläche bedeckt hatte, ging er in seiner Furcht gar so weit, dass er aus den Ästen der wenigen Bäume in der Umgebung Schutzdächer über den Wänden baute, um so den gefürchteten, alles vernichtenden Schauer abzuhalten. Aber es fiel kein Regen.
Haar und Bart des Malers waren inzwischen grau geworden. Auch bemerkte er, dass er nicht mehr mit der früheren Behändigkeit auf seinen Leitern und Gerüsten umhersteigen konnte.
Mehr als dreiviertel der Fläche war nun schon ausgefüllt und noch immer mangelte es dem Maler nicht an Ideen oder Willenskraft, sein Werk zu Ende zu bringen.
Die Angst vor dem Regen war mit jenen Schutzdächern gestorben, die ihren Zweck nicht erfüllt hatten, langsam verrotteten, abbrachen und von da an am Fuß des Mauerwerks unbeachtet liegen blieben.
Der Maler wusste nun, dass er sein Lebenswerk vollenden konnte. Mit fast demselben Eifer, der ihn einst als jungen Mann beflügelt hatte, stürzte er sich noch einmal in seine Arbeit.
Endlich nahte der Tag, an dem der letzte Flecken Grau verschwinden sollte.
Liebevoll führte der alte Mann mit zitternder Hand den Pinsel. Zärtlich glitt sein Blick über die Fassade, den Giebel und die Gesimse. Er verharrte da und dort, in der Erinnerung an die Zeit, in welcher diese oder jene Darstellung entstanden war. Zufriedenheit erfüllte den Greis. Und Stolz, wie ihn ein Vater empfindet, dessen Sohn es 'zu etwas gebracht hatte'.
Lag es am schwinden Augenlicht oder hatte der Alte die Umwelt vollkommen vergessen? Er merkte nicht, wie sich fern am Horizont dunkle Wolken zusammenballten und unaufhaltsam näher trieben.
Der letzte Strich war gezogen und erst jetzt fühlte der alte Maler, wie erschöpft er war. Vorsichtig stieg er die Leiter herab und legte sie auf den Erdboden. Dann wandte er sich um und gewahrte das drohende Unwetter, welches mit Windeseile heranzog.
Zunächst spürte er in sich die Erinnerung an längst vergangene Ängste wachwerden. Doch dann wanderte ein Schimmer Erkenntnis über sein faltiges Gesicht. Er ging ein Stück des Weges und setzte sich dann so auf einen Baustumpf, dass er das Ergebnis seiner jahrelangen Arbeit genau beobachten konnte - gerade, als die ersten Tropfen den Boden netzten . Bald prasselten heftige Regengüsse auf das Haus und in dicken Strömen rann die aufgelöste Farbe an den Wänden herab.
So rasch, wie das Unwetter gekommen war, verzog es sich auch wieder.
Die ganze Zeit über hatte der alte Mann mit verstehendem Lächeln da gesessen. Als sich die letzte Wolke aufgelöst hatte und die Sonne das blankgewaschene Haus erstrahlen ließ stand der Alte auf und ging fort, ohne den Blick noch einmal zurückzuwenden.
Jürgen Stiller

Aus: "Die Farben der Wirklichkeit - ein Märchenbuch"
lucy körner verlag

1 Kommentar:

  1. Liebe Margitta,

    eine sehr schöne Geschichte, die ihren Höhepunkt, wie man erkennen muss, wenn man sie sorgfältig liest, bereits im Titel erreicht hat ... zeigt sie doch sehr eindrucksvoll und liebevoll ins Detail gehend auf, was so viele Menschen mit ihrem eigenen Leben veranstalten.

    Wenn das "Lebenswerk" eines Individuums darauf beschränkt wird, seine Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, aber auch Sorgen und Ängste "nur in vergänglichen Farben und Bildern zu malen", während das Leben an sich vergeht und vorüberzieht, dann kann es "irgendwie" nicht vollkommen sein, oder?

    Nun gut, mir hat die Geschichte wie gesagt sehr gut gefallen und ich fühle mich durch sie letztendlich auch in meiner Meinung darüber bestätigt, was das Individuum anstreben sollte, damit am Ende des Weges seines irdischen Daseins wirklich ein "Lebenswerk" von ihm zurückbleibt, an dem sich einige Menschen eventuell kritisch reiben, einige andere aber vielleicht auch ein Beispiel nehmen ...
    Würde mich freuen, wenn die Geschichte noch mehr Beachtung finden und sich noch der eine oder die andere Leser/in mit ihren eigenen Meinungen und/oder Interpretationen einbringen würde!

    Ansonsten sage ich nur: danke und aus gegebenem Anlass alles Liebe und Gute ;-)

    Herzliche Grüße
    Adalbert

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