Freitag, 10. September 2010

Die besten Freunde

Wir werden nur dann verschlungen, wenn wir bereit sind, es geschehen zu lassen.
Nathalie Sarraute

"Bleib doch bitte noch", bat ich.
Ann war meine beste Freundin, das einzige Mädchen in der Nachbarschaft, und ich wollte nicht, dass sie ging.
Sie saß auf meinem Bett, ihre blauen Augen schauten mich verständnislos an.
"Ich langweile mich", sagte sie und wickelte langsam ihren dicken roten Pferdeschwanz um ihren Finger. Sie war vor einer halben Stunde zum Spielen gekommen.
"Bitte geh nicht", bettelte ich. " Deine Mutter sagte, du könntest eine Stunde bleiben."
Ann schickte sich zum Gehen an, da entdeckte sie ein Paar indianische Miniaturmokassins auf meinem Nachttisch. Die Mokassins mit ihrem weichen Leder und der aufgenähten Perlenverzierung waren mein heiß geliebter Schatz.
"Ich werde bleiben, wenn du mir die da schenkst", sagte Ann.
Ich runzelte die Stirn, Ich konnte mir nicht vorstellen, die Mokassins wegzugeben. "Aber Tante Reba hat sie mir geschenkt", protestierte ich.
Meine Tante war eine wunderbare Frau gewesen. Ich hatte sie wirklich vergöttert. Sie war nie zu beschäftigt gewesen, um ihre Zeit mit mir zu verbringen. Wir dachten uns verrückte Geschichten aus und lachten viel.
An dem Tag, als sie starb, verkroch ich mich unter einer Decke und weinte stundenlang; ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich sie nie wieder sehen würde.
Als ich nun die weichen Mokassins durch meine Hände gleiten ließ, durchströmten mich liebevolle Erinnerungen an Tante Reba.
Ich weiß nicht, was über mich gekommen war, doch ich wollte mehr als alles andere, dass jemand da war, der mit mir spielte. Ich wollte so sehr mit jemandem zusammen spielen, dass ich Ann die Mokassins gab!
Nachdem sie sie in ihrer Tasche verstaut hatte, fuhren wir einige Male mit unseren Fahrrädern die Straße entlang. Bald wurde es für sie Zeit zu gehen. Ich war beunruhigt über das, was ich getan hatte, sodass ich sowieso keine Lust mehr zum Spielen hatte.
An diesem Abend schützt ich "keinen Hunger" vor und verzog mich ohne Abendessen ins Bett. Als ich oben in meinem Zimmer war, vermisste ich meine Mokassins noch schmerzlicher!
Nachdem meine Mutter mich zugedeckt und das Licht ausgemacht hatte, fragte sie mich, was nicht in Ordnung sei.
Unter Tränen erzählte ich ihr von meinem Verrat an Tante Reba und meinem schlechten Gewissen deshalb.
Mom umarmte mich liebevoll, doch alles, was sie sagte, war: "Weißt du, ich denke, du musst entscheiden, was zu tun ist."
Ihre Worte schienen mir auch nicht weiterzuhelfen. In der Dunkelheit, ganz allein, begann ich die Sache noch einmal klar zu überdenken. Ein Kindergesetz lautet, getauscht ist getauscht. Doch war es ein fairer Tausch? Warum habe ich Ann erlaubt mit meinen Gefühlen zu spielen? Doch vor allem fragte ich mich: Ist Ann wirklich meine beste Freundin?
Ich entschied, was ich tun würde. Ich warf mich die ganze Nacht im Bett hin und her und fürchtete mich vor dem Anbrechen des Tages.
Am nächsten Tag stellte ich Ann in der Schule. Ich holte tief Atem und verlangte meine Mokassins zurück. Ihre Augen verengten sie, und sie starrte mich eine lange Zeit an.
Bitte, dachte ich. Bitte.
"Okay", sagte sie schließlich und zog die Mokassins aus ihrer Tasche. "Mir haben sie sowieso nicht gefallen. " Erleichterung strömte wie eine Welle durch mich hindurch.
Nach einiger Zeit hörten Ann und ich auf, zusammen zu spielen. Ich stellte fest, dass die Jungen aus der Nachbarschaft gar keine üblen Spielkameraden waren, besonders wenn sie mit mir Softball spielen wollten, das wie Baseball - nur mit einem weicheren Ball - gespielt wird. Ich fand sogar neue Freundinnen aus anderen Vierteln als dem unseren.
Im Laufe der Jahre fand ich andere beste Freundinnen. Doch ich hatte nie wieder um ihre Gesellschaft gebettelt. Ich hatte verstanden, dass beste Freund Menschen sind, die gerne ihre Zeit mit dir verbringen und dafür auch keine Gegenleistung von dir verlangen.
Mary Beth Olson

Aus: "Nochmehr Hühnersüppchen für die Seele"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

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