Eines Tages, die Sonne war gerade erst aufgegangen und der junge Mann hatte wieder einmal die ganze Nacht in Gedanken zugebracht, faste er den Entschluss, sein Leben zu erkunden.
Er wollte den Sinn des Lebens finden und machte sich auf den Weg. Stunden war er schon gegangen, die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, da kam er in eine Stadt. Die Menschen, denen er begegnete, schienen alle sehr traurig zu sein. Es gab keinen einzigen, der fröhlich war und lächelte. Da sprach der junge Mann eine Frau an, die gerade dabei war, die Straße vorm Haus zu fegen: "Weshalb sehen alle Leute in eurer Stadt so traurig aus?"
"Ach", seufze die Frau, "vor Jahren zog ein Wanderer durch unsere Stadt und hat uns unermesslichen Reichtum versprochen, wenn wir ein Jahr lang nicht lachen würden. Alle waren wir damals so gierig, daß wir uns darauf eingelassen haben. Doch nachdem das Jahr vergangen war, war von den versprochenen Schätzen nichts zu sehen, aber wir alle hatten verlernt zu lachen. Seitdem sind viele Wanderer durch unsere Stadt gekommen, und wir haben sie gebeten, uns ein Lächeln zu schenken, doch alle hatten Angst, auch ihr Lachen könne für immer verlorengehen, und zogen schnell weiter."
"Ich will es besser machen als meine Vorgänger, denn wenn ich mit meinem Lächeln euch allen das Lachen zurückgeben kann, so kann mein Lachen gar nicht verlorengehen - es strahlt mir in euren Gesichtern ja hundertfach zurück. Ich wäre glücklich, wenn ich euch helfen dürfte"- sagte der junge Mann und lächelte die Frau an.
Und vor Freude begannen die Augen der Frau zu strahlen, und ihre Mundwinkel bewegten sich langsam nach oben. In den Augen des jungen Mannes sah sie ihr lächelndes Spiegelbild. Von Freude übermannt, begann sie lauthals zu lachen, und alsbald war die Straße zum Treffpunkt aller Bewohner der Stadt geworden, und einer schenkte dem anderen das wiedergewonnene Lächeln. Doch als sie dem Jüngling danken wollten, stellten sie fest, dass er nicht mehr da war.
Er hatte ein Weilchen zugesehen und sich am Glück der Menschen erfreut, dann war er weitergezogen. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun, und er wollte ja den Sinn des Lebens finden, also hatte er sich wieder auf den Weg gemacht.
Langsam zog die Abenddämmerung herauf. Es war an der Zeit, sich nach einem Lager für die Nacht umzusehen. In einiger Entfernung sah er die hell erleuchteten Fenster eines Bauernhauses. Rasch lenkte er seine Schritte in diese Richtung.
Noch bevor er das Haus erreichte, schlug der große, schwarze Hund an, der im Hof festgebunden war. Die Tür öffnete sich, und der Bauer trat heraus, um zu sehen, weshalb sein Hund zu bellen begonnen hatte.
Der junge Mann begrüßte den Bauern freundlich und trug sein Anliegen vor. "Freilich kannst du hier übernachten", antwortete der Bauer. "Du musst halt mit der Scheune vorlieb nehmen, aber im Heu hast du`s warm."
Der Bauer bat ihn einzutreten, und ohne dass er darum bitten musste, teilte dieser sein Abendessen mit dem jungen Wanderer.
Als beide satt und zufrieden waren, stopfte der Bauer sein Pfeifchen und fragte den jungen Mann, was ihn in diese abgelegene Gegend verschlagen habe.
"Ich bin auf der Suche nach dem Sinn des Lebens", antwortete der junge Mann. "Ich glaube, wer den Sinn des Lebens gefunden hat, ist glücklich und zufrieden. Ich habe mich immer so leer gefühlt, und in mir brannte eine unbändige Sehnsucht nach Glück, Wissen und der Einheit mit dem Universum. Ich glaube, diese kann man nur erfüllen, wenn man den Sinn des Lebens erkannt hat. Also haben ich mich auf den Weg gemacht, um Erfahrungen zu sammeln, und hoffe, dass mir das bei meiner Suche weiterhilft."
"Junger Mann", sagte der Bauer, "Wenn du dich mit solchen Gedanken trägst, dann lass mich dir eine Geschichte erzählen, die mir vor Jahren ein alter Mann berichtete, den ich für einen Weisen halte:
In einem fernen Land lebte schon seit über tausend Jahren eine Schildkröte. Tagein, tagaus hatte sie bisher nur geschlafen, gefressen und war ein paar Meter gekrochen. Nach tausend Jahren Alltagseinerlei wollte die Schildkröte nicht mehr weiterleben wie bisher. Alles erschien ihr so sinnlos. Sie wollte keine Schildkröte mehr sein, die schwer an ihrem Panzer zu tragen hat, sie wollte sich schnell vorwärtsbewegen können und etwas von der Welt sehen. Deshalb versuchte sie, sich von ihrem Panzer zu befreien. Den ganzen Vormittag über bemühte sie sich vergebens, aus ihrem Panzer herauszuschlüpfen. Erschöpft machte sie eine Pause, als einer ihrer Freunde herankroch. ´Guten Tag` sagte dieser freundlich. ´Ich habe dir schon ein Weilchen zugesehen. Was machst du denn da?`
´Ich versuche, mich meines Panzers zu entledigen, weil er nur stört und mich daran hindert, die Welt zu sehen. Du weißt ja selbst, wie langsam wir mit diesem Ding vorankommen`, antwortete die alte Schildkröte.
´Wenn du meinst! Vielleicht kann ich dir helfen. Freunde sollten einander immer helfen. Ich werde deinen Panzer hinten festhalten, und du versuchst, dich vorne hinauszuzwängen.`
Und tatsächlich, gemeinsam schafften sie es, die alte Schildkröte war aus ihrem Panzer geschlüpft. Ganz fremd erschien sie nun ihrem Freunde.
Doch sie war begeistert. ´Nun steht mir die Welt offen!` rief sie fröhlich aus.
´Was wirst du nun tun?`fragte ihr Freund.
´Ich werde mir die Welt ansehen. Willst du nicht mitkommen? Ich helfe dir auch aus deinem Panzer!`
´Ach nein, ich warte lieber hier auf dich und bewache deinen Panzer. Wenn du wiederkommst, kannst du mir ja alles berichten.`
Da umarmte die Schildkröte ihren Freund herzlich, verabschiedete sich, und so schnell wie noch nie in ihrem Leben machte sie sich auf.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, es war Mittag, als der Schildkröte schmerzlich bewusst wurde, wie sehr sie ihren Panzer brauchte, denn ungeschützt, wie sie war, brannte ihr die Sonne fürchterlich auf den Rücken. Die ersten Brandblasen bildeten sich.
Bitter war der Geschmack der Erkenntnis. Langsam rannen aus ihren Augen die dicken Tränen des Schmerzes und der Trauer. Mit Mühe erreichte sie den Schatten eines Gebüsches, und erschöpft schlief sie dort ein.
Als sie erwachte, sah sie eine Schildkröte neben sich, die noch viel älter als sie selbst zu sein schien. Diese kühlte ihr die Brandwunden mit feuchten Blättern. Die Schildkröte wollte gerade dazu ansetzen, ihre Blöße zu erklären, als ihre Pflegerin den Kopf schüttelte und sagte: ´Ich weiß! aber du hast einen Fehler gemacht. Nicht außen musst du etwas ändern, um neue Wege zu beschreiten, sondern innen, in dir, deine Einstellung zum Leben.`
´Wie kannst du das wissen?` fragte die Schildkröte erstaunt.
´Auch ich bin den schmerzhaften Weg der Erkenntnis gegangen, um zu erfahren, was ich dir eben gesagt habe. Nun ziehe ich langsam mit meinem Panzer durch die Welt und erzähle meine Geschichte, um Artgenossen den Weg zur Erkenntnis leichter zu machen. Dir bin ich ein bisschen spät begegnet, aber nicht zu spät. Als ich dich fand, kniete dein Freund in Verzweiflung neben dir und wusste nicht, wie er dir helfen sollte. Er muss dich sehr lieben, da er dir so weit gefolgt ist mit seinem schweren Panzer. Ich habe meine beiden Reisebegleiter mit ihm geschickt, um deinen Panzer zu holen. Sie müssen bald zurück sein.`
Die alte weise Schildkröte hatte kaum zu Ende gesprochen, da kamen die drei auch schon.
Voller Glück umarmten sich die beiden Freunde, und alle gemeinsam halfen der nackten Schildkröte in ihren Panzer zurück.
´Auch ich will es mir zur Aufgabe mache, mein Wissen an andere weiterzugeben, und vielleicht willst du mich als Partner auf meinem Weg begleiten?`fragte die Schildkröte ihren Freund.
´Ja, das werde ich tun. Wie ich bereits sagte, Freunde sollten einander immer helfen.`
Die beiden bedankten sich bei der weisen Schildkröte und ihren Begleitern.
´Innen, nicht außen!`betonte die weise Schildkröte noch einmal, und dann trennten sich ihre Wege.`
"Das waren die Worte des alten Mannes", sagte der Bauer, "und ich habe seit damals begonnen, meine Einstellung zum Leben zu ändern, und ich sage dir, den Sinn des Lebens kann man nur in sich selbst finden. Du musst deinem Leben seinen Sinn geben. Ich bring dich jetzt zu deinem Nachtlager in die Scheune.
Auch in dieser Nacht konnte der junge Mann nicht schlafen; er musste über die Geschichte nachdenken, die ihm der Bauer erzählt hatte.
Und als die ersten Sonnenstrahlen durch die Holzplatten in die Scheune fielen und seine Nase kitzelten, lächelte der jung Mann - nun musste er nicht mehr weitergehen, den Sinn des Lebens würde er in sich finden, egal wo er war. Er würde sich wieder auf den Heimweg begeben.
Als er die Scheune verließ, stellte er fest, dass der Bauer schon weg war zur Feldarbeit.
Der junge Mann schlug denselben Weg ein, den er gekommen war, aber wie verändert schien ihm alles! Die Blumen blühten am Weg, weiße Wolken zogen am Himmel, die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Wie blind war er doch durchs Leben gegangen! Überall im Gras krochen Käfer, und durch die Lüfte schwirrten Insekten, alles war voller Leben.
Er empfand eine tiefe Liebe in sich zu allen Lebewesen. Da erkannte er: Der Sinn des Lebens kann einzig die Liebe sein, sie verwandelt alles. Wer für alles Sein auf Erden Liebe empfindet, der hat Glück und Zufriedenheit in sich. Er wird seinem Leben Sinn geben, indem er seine Liebe verschenkt.
Liebe ist der einzige Schatz, der sich vermehrt, je mehr man davon hergibt!
Sonja Bruckner
Sonntag, 2. August 2009
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Eine schöne Parabel.
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