Meine Großmutter hatte eine Feindin: Mrs. Wilcox. Gleich nach ihrer Hochzeit wurden die beiden Nachbarninnen, und für den Rest ihres Lebens wohnten sie Tür an Tür in der verschlafenen, von Ulmen gesäumten Hauptstraße der kleinen Stadt. Ich weiß nicht, was der Auslöser für ihren Krieg war - das war lange vor meiner Zeit -, und ich bezweifle, dass sie sich selbst noch daran erinnern konnte, als ich über dreißig Jahre später geboren wurde. Dennoch fochten sie ihn verbissen weiter aus.
Täuschen Sie sich nicht. Es handelte sich hier nicht um bloßes Geplänkel. Es war ein Krieg zwischen Frauen - das heißt der totale Krieg. Nichts in der Stadt blieb davon verschont. Die dreihundert Jahre alte Kirche, die die Revolution, den Bürgerkrieg und den spanisch-amerikanischen Krieg überdauert hatte, fiel beinahe in Trümmer, als Großmutter und Mrs. Wilcox in die Schlacht um den Frauenwohlfahrtsclub zogen. Großmutter ging zwar siegreich daraus hervor, doch wirkliche Genugtuung brachte ihr das nicht. Nachdem Mrs. Wilcox die Präsidentschaft verwehrt blieb, zog sie sich mit Knall auf Fall aus dem Club zurück. Und was ist schon Tolles daran, einen Verein zu leiten, wenn man dabei die Todfeindin nicht zu Kreuze kriechen lassen kann?
Die Schlacht um die öffentliche Bücherei konnte Mrs. Wilcox für sich entscheiden. Ihre Nichte Gertrude wurde anstelle meiner Tante Phyllis zur Bibliothekarin ernannt. An dem Tag, an dem Gertrude ihre Stelle antrat, hörte meine Großmutter auf, Bücher aus der Bibliothek zu leihen - sie waren über Nacht zu "dreckigen Bakterienherden" geworden. Fortan kaufte sie sich ihren Lesestoff in der Buchhandlung.
Die Schlacht um die High School endete unentschieden. Dem Direktor wurde eine bessere Stelle angeboten; er ging fort, noch bevor Mrs. Wilcox seine Entlassung oder Großmutter seine Bestellung auf Lebenszeit durchsetzen konnte.
Neben diesen großen Gefechten fand ein permanenter Schlagabtausch auf diversen Nebenschauplätzen statt. Wenn wir Kinder unsere Großmutter besuchten, bestand eines unserer größten Vergnügen darin, den unmöglichen Enkelkindern von Mrs. Wilcox - heute weiß ich, dass sie in etwa so unmöglich waren wie wir - Grimassen zu schneiden und Trauben von der Wilcoxschen Seite des Gartenzauns zu klauen. Außderdem jagten wir die Hühner von Mrs. Wilcox und legten Knallfrösche, die wir von den Feierlichkeiten zum 4. Juli aufbewahrt hatten, auf die Straßenbahnschienen, die direkt vor Mrs. Wilcox Haus vorbeiführten, in der vergnüglichen Hoffnung, dass die nächste Bahn darüber fahren und Mrs. Wilcox durch die dabei ausgelöste - und natürlich völlig harmose - Explosion vor Schreck halb in Ohnmacht fallen würde.
Eines schönen Tages verfrachteten wir eine Schlange in die Wilcoxsche Regentonne. Meine Großmutter legte zwar formellen Protest ein, doch wir hörten ihr sillschweigendes Einverständnis heraus, das so ganz anders klang als das, was in dem strikten Nein meiner Mutter mitschwang, und so reihten wir fröhlich eine Biestigkeit an die andere. Wenn eines meiner Kinder ... doch das ist eine andere Geschichte.
Aber glauben Sie bloß nicht, dass es sich da um eine einseitige Angelegenheit handelte. Vergessen Sie nicht, dass auch Mrs. Wilcox Enkelkinder hatte. Zudem waren sie zahlreicher, dreister und cleverer als wir. Meine Großmutter kam also keinesfalls ungeschoren davon. In ihren Kelller wurden Stinktiere geschmuggelt. An Halloween flog alles, was nicht niet- und nagelfest war, wie beispielsweise die Gartenmöbel, auf wundersame Weise auf den Giebel der Scheune, und es mussten mehrere kräftige Männer engagiert werden, die die Sachen zu Wucherlöhnen wieder herunterholten.
Kein windiger Waschtag verging, ohne dass die Wäscheleine auf mysteriöse Weise riss, sodass die Laken im Dreck lagen und noch einmal gewaschen werden mussten. Wenn einige dieser Vorfälle vielleicht auch auf höhere Gewalt zurückzuführen waren - sie wurden immer Mrs. Wilcox´Enkel in die Schuhe geschoben.
Ich weiß nicht, wie meine Großmutter solche Plagen hätte aushalten können, wäre da nicht die Hausfrauenseite der Bostoner Tageszeitung gewesen. Die war wirklich unübertrefflich. Neben den üblichen Kochrezepten und Putztipps gab es darin nämlich eine Sparte, in der die Leserinnen in aller Öffentlichkeit einen brieflichen Austausch miteinander pflegen konnten. Das funktionierte so, dass jemand, der ein Problem hatte - oder auch nur Dampf ablassen wollte -, unter einem selbst gewählten Namen wie etwa Arbutus an die Zeitung schrieb. Arbutus war das Pseudonym meiner Großmutter. Daraufhin schrieben andere Leserinnen, die das gleiche Problem hatten, zurück und berichteten, was sie selbst in der Sache unternommen hatten. Sie unterzeichneten ihre Briefe mit "Jemand, der Bescheid weiß" oder "Xanthippe" oder wie auch immer. In vielen Fällen wurde der Briefwechsel fortgesetzt, nachdem das eigentliche Problem längst aus der Welt geschafft war, und die Damen tauschten in der Zeitungspalte Neuigkeiten über ihre Kinder, das Einkochen oder ihre neue Esszimmergarnitur aus.
Das geschah auch im Fall meiner Großmutter. Sie korrespondierte ein Vierteljahrhundert lang mit einer Frau namens Seemöwe und tauschte mit ihr Dinge aus, die sie sonst nie einer Menschenseele verraten hätte - so erzählte sie zum Beispiel davon, wie sie einmal gehofft hatte, wieder schwanger zu sein, es aber dann doch nicht war, oder davon, wie mein Onkel Steve mit Sie-wissen-schon-was im Haar aus der Schule heimkam und als welche Schande sie das empfunden hatte, obwohl sie die Dinger losgeworden war, noch bevor irgendjemand in der Stadt auch nur den leisesten Verdacht geschöpft hatte. Seemöwe war die Busenfreundin meiner Großmutter.
Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, starb Mrs. Wilcox. In einer kleinen Stadt wie der unseren ist es in einem solchen Fall üblich, bei den Nachbarn vorbeizuschauen und zu fragen, ob man ihnen helfen könne, auch wenn man sie noch so sehr gehasst hatte.
Eine adrette Küchenschürze umgebunden, die zeigen sollte, dass sie ihr Angebot zu helfen durchaus ernst meinte, schritt meine Großmutter über die beiden Rasenflächen zum Nachbarhaus, und die Tochter von Mrs. Wilcox teilte sie im Hinblick auf die Beerdigung zum Putzen des ohnehin maklellosen Empfangszimmers ein. Und da, mitten auf dem Tisch der guten Stube, lag ein großes, dickes Heft, in dem fein säuberlich nebeneinander ihre Briefe an Seemöwe und Seemöwes Briefe an sie eingeklebt waren. Die allergrößte Feindin meiner Großmutter war gleichzeitig ihre allerbeste Freundin gewesen.
Das war das einzige Mal, dass ich meine Großmutter Tränen vergießen sah. Ich wusste damals nicht genau, warum sie eigentlich weinte, aber inzwischen weiß ich es. Sie weinte um all die vergeudeten Jahre, die sie nicht mehr zurückholen konnte. Damals beeindruckten mich nur die Tränen, und ihretwegen erinnere ich mich an jenen Tag, an dem es wahrlich Wichtigeres zu erinnern gegeben hätte als die Tränen einer Frau. An jenem Tag dämmerte mir zum ersten Mal, wovon ich inzwischen aus ganzem Herzen überzeugt bin, und wenn ich es irgendwann einmal nicht mehr glauben sollte, dann will ich nicht mehr leben. Und das ist Folgendes:
Ein Mensch mag absolut unmöglich erscheinen. Er mag einem gemein, kleinlich und verlogen vorkommen. Aber wenn du zehn Schritte nach links machst und ihn dir noch einmal aus einem anderen Blickwinkel ansiehst, dann entdeckst du ganz sicher, wie großzügig, warmherzig und liebevoll er ist. Es hängt alles nur von dem Standpunkt ab, von dem aus du ihn betrachtest.
Louise Dickinson RichAus: "Hühnersüppchen für die Seele"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen
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