Dienstag, 15. Mai 2012

Was steckt in einem Namen?


Der Mann, der ein Kind erzieht, soll sein Vater genannt werden, nicht der Mann, der nichts getan hat, als es zu zeugen.
MIDRAH, EXODUS RABBAH, 46:5

Ich war elf, als meine Mutter sich wieder verheiratete. Als ich vier oder fünf war, hatten sie und mein Vater sich scheiden lassen. Wir waren von einer hellen, freundlichen Erdgeschosswohnung in einem ruhigen Mittelklasseviertel in eine beengte, dunkle Wohnung im vierten Stock eines ärmeren Bezirks von New York City gezogen. Mein Bruder und ich fühlten uns oft einsam und hatten Angst, wenn wir hörten, wie Polizei- oder Krankenwagensirenen die Nacht zerschnitten.

Ich erinnere mich, dass ich in den sechs Jahren, die wir dort lebten, diejenigen meiner Freunde beneidete, die einen Vater hatten. Es war mein Traum, einen eigenen Vater zu bekommen. Mein leiblicher Vater war aus meinem Leben vollkommen verschwunden, sein Verbleib ein Geheimnis. Ich dachte, wenn ich einen Vater hätte, würde er ein mächtiger Beschützer sein, der mich auf magische Weise gegen all die vielen Gefahren verteidigen würde, denen ich mich auf den Straßen gegenübersah. In dieser kindlichen Fantasie brauchte mein neuer Dad nicht zu arbeiten. Er war nur für mich da, immer wenn ich ihn brauchte. Wenn andere Jungen mich bedrohten, würde Superdad erscheinen und sie vertreiben. Es war pures Wunschdenken, aber trotzdem ein Traum, der einen verängstigten keinen Jungen viel Kraft gab.

Dann tauchte plötzlich Frank McCarty in unserem Leben auf. Er war aufregend und interessant, denn er war Hauptkommissar bei der Polizei von News York City. Er hatte ein goldenes Polizeiabzeichen, und unter dem Jackett trug er in einem Halfter an seinem Gürtel eine Pistole. Ich erinnere mich nicht mehr an den Tag, an dem er zum ersten Mal da war, wohl aber an die Zeit generell und das Gefühl von Aufregung und Drama, das sie begleitete. Polizisten kamen in Filmen vor. Sie waren keine Leute, die man im realen Leben kannte. Ich erzählte meinen Freunden von ihm. Sie bekamen große Augen, als ich seine Pistole beschrieb und die Geschichten über die Gefangennahme diverser Bösewichte wiedergab.

Er erzählte diese Geschichten nicht gern, aber meine Mom wollte, dass er von ihren Söhnen akzeptiert wurde, und sie wusste, was Kinder hören wollen. Sie signalisierte ihm, eine bestimmte Geschichte zum Besten zu geben, und er fügte sich und erzählte sie geduldig. Wenn er dann in Fahrt kam, wurde er lebhafter, und die Geschichte nahm mythische Proportionen an.

Eines Tages fragte Mutter mich, was ich davon halten würde, wenn sie Frank heiraten würde. Zu diesem Zeitpunkt hing ich schon fest am Haken. Er hatte mich zu einem Spiel der Giants auf dem Poloplatz mitgenommen. Er war mit mir nach Coney Island gefahren. Er unterhielt sich mit mir. Er gab mir Ratschläge, wie ich mich wehren konnte, wenn ich auf der Straße von üblen Typen schikaniert wurde. Unter seinem Jackett gleißte verhalten die Pistole. Ich konnte einen Vater, einen Beschützer haben, jemanden, der mich zum Spiel des Lebens mitnahm. „Wow!“, sagte ich, „das fände ich super!“

Der Tag kam. Wir gingen in ein ländliches Urlaubshotel, dessen Besitzer ein Freund meiner Mutter war. Ein anderer Freund von Mama, ein Richter, leitete die Hochzeit. Ich hatte einen Dad. Jetzt würde alles gut werden.

Als elfjähriges Kind wusste ich nicht, wie tief greifend mein Leben sich durch diesen einen Augenblick verändern würde.

Mein neuer Dad, der bis dato Junggeselle gewesen war, hatte mit Kindern eine sehr begrenzte Erfahrung. Er hatte keine Gelegenheit, so wie andere Väter seine neue Rolle als Elternteil auf die natürliche, allmähliche Weise zu lernen. Er hatte nie ein eigenes Baby im Arm gehalten, nie die Freude über die ersten Schritte dieses Babys kennen gelernt, sich nie abwechseln müssen, um dieses Kind zu füttern, anzuziehen, ihm die Windeln zu wechseln oder irgendeine der zahllosen anderen Aufgaben auszuführen, die mit dem Elternsein einhergehen.

Er wurde plötzlich in die Elternrolle hineingeworfen, und er kam auf das zurück, was er kannte. Seine Erfahrung mit Kindern beschränkte sich darauf, dass er schon mal welche festgenommen hatte. In puncto Erziehung erinnerte er sich nur an die vorsintflutlichen Methoden seines eigenen Vaters. Er dachte er könnte sich ans Kopfende des Tisches setzen und Befehle erteilen, denen willfährige Kinder sofort gehorchten.

Es war reines Pech für ihn, dass meine Mutter uns dazu erzogen hatte, selbstständiger zu sein und uns an den Diskussionen am Esstisch zu beteiligen. Wir waren dazu ermuntert worden, eine eigene Meinung zu haben. Sie brachte uns bei, unsere Ansicht zu vertreten, aber auch zuzuhören. Wir waren nicht dazu erzogen worden, unhöflich oder grob zu sein, aber wir ließen uns auch kein X für ein U vormachen.

Kompliziert wurde das Ganze noch durch das Einsetzen der Pubertät. Frank McCarty wurde ein Vater mit dem Bedürfnis, alles zu bestimmen, alles zu wissen, der Chef zu sein, und in ebendieser Zeit wurde ich zum Teenager und steckte mitten in der Suche des Heranwachenden nach Unabhängigkeit und eigener Macht. Ich war stark von ihm angezogen und liebte ihn fast sofort. Gleichzeitig aber war ich fast ständig wütend auf ihn. Er stand mir im Weg. Er war nicht leicht zu manipulieren. Mein Bruder und ich konnten unsere Mutter meisterlich an der Nase herumführen. Frank McCarty war immun gegen unser Tricks.

So begann für mich und meinen neuen Vater eine achtjährige Hölle. Er verkündete Regeln, und ich versuchte, sie zu brechen. Er schickt mich auf mein Zimmer, weil ich unverschämt gewesen war oder eine bestimmte Einstellung hatte. Ich beklagte mich bei meiner Mutter bitterlich über seine diktatorischen Praktiken. Sie bemühte sich sehr, Frieden zu stiften, aber ohne Erfolg.

Ich muss zugeben, dass ich zwischen dreizehn und zwanzig wegen vermeintlicher Kränkungen durch meinen Vater ziemlich oft wütend und frustriert war. Auch wenn in diesen Phasen die Fetzen flogen, gab es doch auch immer wieder schöne Erlebnisse mit ihm. So etwa ging ich jede Woche mit ihm Blumen einkaufen, „um deine Mutter zu überraschen“, wie er sagte. Ich ging mit ihm zu Ballspielen. Ich saß mit ihm spät abends im Auto und beobachtete ein Haus. Als er Privatdetektiv in New York City wurde, nahm er mich zu Observationen mit, wenn es um Versicherungsbetrug oder ähnliche gewaltlose Fälle ging. Wir saßen dann im dunklen Auto, schlürften Kaffee, und er redete über den „Job“, wie er seine Arbeit bei der Polizei nannte. In solchen Zeiten fühlte ich mich als etwas ganz Besonderes, geliebt und akzeptiert. Das war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein Das, der mich liebte, der etwas mit mir unternahm.

Ich erinnere mich an viele, viele Abende, an denen ich vor ihm auf dem Sofa saß und er mir den Rücken massierte, während wir zusammen fernsahen. Er umarmte mich oft und herzlich. Er hatte keine Angst, „ich liebe dich“ zu sagen. Ich fand es bemerkenswert, wie viel Zärtlichkeit dieses Raubein auszudrücken vermochte. Allerdings konnte er von solchen intimen Momenten sofort in sein rotgesichtiges Herumgeschreie wechseln und seinen Jähzorn herausschleudern. Wenn ich etwas sagte oder tat, das er für eine Frechheit hielt. Seine Wut war ein Naturereignis, so ähnlich wie ein Tornado. Man bekam schon Angst, wenn man sie nur sah. Und es war noch schrecklicher, ihr Ziel zu sein.

In meiner Highschool-Zeit nahmen die wütenden Phasen zu und meine Nähe zu ihm ab. Als ich aufs College ging, waren wir uns fast ganz fremd. Bei meinen Freunden heimste ich jede Menge Sympathien ein, wenn ich über ihn herzog. Ich erzählte Geschichten von seiner neuesten „Grausamkeit“, und weil sie die Pubertät genauso wenig hinter sich gelassen hatten wie ich, murmelten sie mitfühlend, wie viel wir uns doch von unseren Vätern gefallen lassen mussten.

Es war mein letztes Jahr am College. Ich weiß nicht, ob irgendein bestimmtes Ereignis der Auslöser war oder ich einfach ein Jahr älter und etwas reifen war. Aber ich fing an meine Beziehung zu ihm zu überdenken.

Ich sagte mir: „Da ist also ein Typ, der sich in meine Mutter verknallt hat, und als Preis, sie heiraten zu können, hat er zwei heranwachsende Jungen am Hals. Er hat sich nicht in zwei Jungen verliebt, nur in meine Mutter. Wir waren inklusive.

Und jetzt überleg mal, was er gemacht hat: Er hat sich nicht nur mit ihr beschäftigt und uns ignoriert. Nein, er hat sich mordsmäßig angestrengt, mir ein wirklicher Vater zu sein. Ständig setzte er die Beziehung auf Spiel. Er hat versucht, mir ein bestimmtes Wertesystem zu vermitteln. Er hat dafür gesorgt, dass ich meine Hausaufgaben mache. Um zwei Uhr nachts hat er mich zur Notaufnahme gebracht. Er hat ohne Murren für meine Ausbildung gezahlt. Er hat mir beigebracht, wie man eine Krawatte bindet. Er hat alles gemacht, was Väter so tun, ohne etwas zurückzuerwarten. Das ist wirklich allererste Sahne. Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen, dass er da war.“

Ich wusste, dass mein Vater aus einer irischen Familie stammte, die schon lange in New England ansässig war. Sie waren nie berühmt, mächtig oder reich gewesen, aber sie waren schon ziemlich lange da. Es bekümmerte ihn, dass er der Letzte war, der „den Namen trug“. „Er wird mit mir sterben“, sagte er. Sein Bruder war kinderlos gestorben, und seine Schwestern hatten geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen.

Mein Bruder und ich trugen immer noch den Namen unseres biologischen Vaters – des Mannes, der mich gezeugt hatte, den Rest des Jobs aber anderen überlassen hatte. Mich störte der Gedanke, dass der Mann, der wirklich mein Vater war – so, wie ich das Wort verstand – nicht dadurch gefeiert wurde, dass er einen Sohn hatte, der seinen Namen trug.

Ideen fliegen uns zu und kristallisieren sich allmählich zu Handlungen. Der Einfall wurde immer dringlicher. Mein Denken wurde zunehmend von ihm beherrscht. Schließlich war das Handeln unausweichlich. Ich ging zu einem Rechtsanwalt und dann zu einem Gericht. Heimlich ließ ich meinen Namen in McCarty ändern. Ich erzählte es niemandem. Ich wartete drei Monate, bis zum Geburtstag meines Dads im Oktober.

Er machte die Geburtstagskarte langsam auf. Wenn ich ihm sonst eine Glückwunschkarte gegeben hatte, hing sie an einer Schachtel mit seinem Geschenk. Diesmal gab es keine Schachtel, nur den Umschlag. Er zog die Karte und mit ihr eine Urkunde vom Gericht heraus.

Auf die Karte hatte ich geschrieben: „Das wahre Geschenk für Vater und Sohn gibt es nicht im Laden zu kaufen. Du hast mir Wurzeln gegeben, ich gebe dir Äste.“

Es war eine der zwei oder drei Gelegenheiten, bei denen ich meinen Vater weinen sah. Die Tränen kamen ungerufen. Er lächelte, schüttelte den Kopf und seufzte. Dann stand er auf und umschloss mich mit einer seiner berühmten bärengleichen Umarmungen. „Danke, Junge, danke. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke.“ Auch meine Mom war von den Socken. Und sehr glücklich für uns beide. Der Krieg war vorbei. Ich hatte das Waffenstillstandsabkommen gebracht, eingepackt in eine Geburtstagskarte.
Hanoch McCarty

Aus: “Hühnersuppe für die Seele – Weiter Geschichten, die zu Herzen gehen“
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

2 Kommentare:

  1. Liebes Paulinchen!
    Ausgezeichnet!
    „Midrah“ muß aber heißen: Midrasch.
    Umarme ganz zärtlich Margitta von mir.
    Ganz liebe Grüße aus Flandern,
    Deine Nadja

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  2. Ein wirklich sehr sehr schöner Text. Ich habe mir das Buch direkt bestellt, vielen dank für den tollen Tipp!
    Viele Grüße
    Daniela

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