Dienstag, 10. November 2009

Wie es weiterging

von Bruno Streibel und Heinz Körner
(aus: Die Farben der Wirklichkeit - Ein Märchenbuch - lucy körner verlag, 7012 Fellbach 1983)

In dieser Nacht war das kleine Mädchen sehr unruhig. Immer wieder dachte es an den traurigen Baum und schlief schließlich erst ein, als bereits der Morgen zu dämmern begann.
Natürlich verschlief das Mädchen an diesem Morgen. Als es endlich aufgestanden war, wirkte sein Gesicht blass und stumpf.
"Hast du etwas Schlimmes geträumt?", fragte der Vater.
Das Mädchen schwieg, schüttelte dann den Kopf.
Auch die Mutter war besorgt: "Was ist mit dir?"
Und da brach schließlich doch all der Kummer aus dem Mädchen. Von Tränen überströmt stammelte es: "Der Baum! Er ist so schrecklich traurig. Darüber bin ich so traurig. Ich kann das einfach nicht verstehen."
Der Vater nahm die Kleine behutsam in seine Arme, ließ sie in Ruhe ausweinen und streichelte sie nur liebevoll. Dabei wurde ihr Schluchzen nach und nach leiser und die Traurigkeit verlor sich allmählich. Plötzlich leuchteten die Augen des Mädchens auf, und ohne dass die Eltern etwas begriffen, war es aus dem Haus gerannt.
Wenn ich traurig bin und es vergeht, sobald mich jemand streichelt und in die Arme nimmt, geht es dem Baum vielleicht ähnlich - so dachte das Mädchen. Und als es ein wenig atemlos vor dem Baum stand, wusste es auf einmal, was zu tun war. Scheu blickte die Kleine um sich. Als sie niemanden in der Nähe entdeckte, strich sie zärtlich mit den Händen über die Rinde des Baumes. Leise flüsterte sie dabei: "Ich mag dich, Baum. Ich halte zu dir. Gib nicht auf, mein Baum!"
Nach einer Weile rannte sie wieder los, weil sie ja zur Schule musste. Es machte ihr nichts aus, dass sie zu spät kam, denn sie hatte ein Geheimnis und eine Hoffnung.
Der Baum hatte zuerst gar nicht bemerkt, dass ihn jemand berührte. Er konnte nicht glauben, dass das Streicheln und die Worte ihm galten - und auf einmal war er ganz verblüfft und es wurde sehr still in ihm.
Als das Mädchen wieder fort war, wusste er zuerst nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Dann schüttelte er seine Krone leicht im Wind, vielleicht etwas zu heftig, und sagte zu sich, dass er wohl geträumt haben müsse. Oder vielleicht doch nicht? In einem kleinen Winkel seines Baumherzens hoffte er, dass es kein Traum gewesen war.
Auf dem Heimweg von der Schule war das Mädchen nicht allein. Trotzdem ging es dicht an dem Baum vorbei, streichelte ihn im Vorübergehen und sagte leise: "Ich mag dich und ich komm bald wieder." Da begann der Baum zu glauben, dass er nicht träumte, und ein ganz neues, etwas seltsames Gefühl regte sich in einem kleinen Ast.
Die Mutter wunderte sich, dass ihre Tochter auf einmal so gerne einkaufen ging. Auf alle Fragen der Eltern lächelte die Kleine nur und behielt ihr Geheimnis für sich. Immer wieder sprach das Mädchen nun mit dem Baum, umarmte ihn machmal, streichelte ihn oft. Er verhielt sich still, rührte sich nicht. Aber in seinem Innern begann sich etwas immer stärker zu regen. Wer ihn genau beobachtete, konnte sehen, dass seine Rinde ganz langsam eine freundlichere Farbe bekam. Das Mädchen jedenfalls bemerkte es und freute sich sehr.
Der Gärtner und seine Frau, die den Baum ja vor vielen Jahren gepflanzt hatten, lebten regelmäßig und ordentlich, aber auch freudlos und stumpf vor sich hin. Sie wurden älter, zogen sich zurück und waren oft einsam. Den Baum hatten sie so nach und nach vergessen, ebenso wie sie vergessen hatten, was Lachen und Freude ist - und Leben.
Eines Tages bemerkten sie, dass manchmal ein kleines Mädchen mit dem Baum zu reden schien. Zuerst hielten sie es einfach für eine Kinderei, aber mit der Zeit wurden sie doch etwas neugierig. Schließlich nahmen sie sich vor, bei Gelegenheit einfach zu fragen, was das denn soll. Und so geschah es dann auch.
Das Mädchen erschrak, wusste nicht so recht, wie es sich verhalten sollte. Einfach davonlaufen wollte es nicht, aber erzählen, was wirklich war - das traute es sich nicht.
Endlich gab die Kleine sich einen Ruck, dachte: "Warum eigentlich nicht?" und erzählte die Wahrheit. Der Gärtner und seine Frau mussten ein wenig lachen, waren aber auf eine seltsame Weise unsicher, ohne zu wissen, warum. Ganz schnell gingen sie wieder ins Haus und versicherten sich gegenseitig, dass das kleine Mädchen wohl ein wenig verrückt sein müsse.
Aber die Geschichte ließ sie nicht mehr los. Ein paar Tage später waren sie wie zufällig in der Nähe des Baumes, als das Mädchen wiederkam. Dieses Mal fragte es die Gärtnersleute, warum sie denn den Baum so zurechtgestutzt haben. Zuerst waren sie empört, konnten aber nicht leugnen, dass der Baum in den letzten Wochen ein freundlicheres Aussehen bekommen hatte. Sie wurden sehr nachdenklich.
Die Frau des Gärtners fragte schließlich: "Meinst du, dass es falsch war, was wir getan haben?"
"Ich weiß nur", antwortete das Mädchen, "dass der Baum traurig ist. Und ich finde, dass das nicht sein muss. Oder wollt ihr einen traurigen Baum?"
"Nein!" rief der Gärtner. "Natürlich nicht. Doch was bisher gut und recht war, ist ja wohl auch heute noch richtig, auch für diesen Baum." Und die Gärtnersfrau fügte hinzu: "Wir haben es doch nur gut gemeint."
"Ja, das glaube ich", sagte das Mädchen, "ihr habt es sicher gut gemeint und dabei den Baum sehr traurig gemacht. Schaut ihn doch einmal genau an!" Und dann ließ sie die beiden alten Leute allein und ging ruhig davon mit dem sicheren Gefühl, dass nicht nur der Baum Liebe brauchen würde.
Der Gärtner und seine Frau dachten noch sehr lange über dieses seltsame Mädchen und das Gespräch nach. Immer wieder blickten sie verstohlen zu dem Baum, standen oft vor ihm, um ihn genau zu betrachten. Und eines Tages sahen auch sie, dass der Baum zu oft beschnitten worden war. Sie hatten zwar nicht den Mut, ihn auch zu streicheln und mit ihm zu reden. Aber sie beschlossen, ihn wachsen zu lassen, wie er es wollte.
Das Mädchen und die beiden alten Leute sprachen oft miteinander - über dies oder das und manchmal über den Baum. Gemeinsam erlebten sie, wie er ganz behutsam, zuerst ängstlich und zaghaft, dann ein wenig übermütig und schließlich kraftvoll zu wachsen begann. Voller Lebensfreude wuchs er schief nach unten, als wolle er zu erst einmal sein Glieder räkeln und strecken. Dann wuchs er in die Breite, als wolle er die ganze Welt in seine Arme schließen, und in die Höhe, um allen zu zeigen, wie glücklich er sich fühlt. Auch wenn der Gärtner und seine Frau es sich selbst nicht trauten, so sahen sie doch mit stiller Freude, dass das Mädchen den Baum für alles lobte, was sich an ihm entfalten und wachsen wollte.
Voll Freude beobachtete das Mädchen, dass es dem Gärtner und seiner Frau beinahe so ähnlich erging wie dem Baum. Sie wirkten lebendiger und jünger, fanden das Lachen und die Freude wieder und stellten eines Tages fest, dass sie wohl manches im Leben falsch gemacht hatten. Auch wenn das jetzt nicht mehr zu ändern wäre, so wollten sie wenigstens den Rest ihres Lebens anders gestalten. Sie sagten auch, dass sie Gott wohl ein wenig falsch verstanden hätten, denn Gott sei schließlich Leben, Liebe und Freude und kein Gefängnis. So blühten gemeinsam mit dem Baum zwei alte Menschen zu neuem Leben auf.
Es gab keinen Garten weit und breit, in welchem ein solch schief und wild und fröhlich gewachsener Baum stand. Oft wurde er jetzt von Vorübergehenden bewundert, was der Gärtner, seine Frau und das Mädchen mit stillem, vergnügtem Lächeln beobachteten. Am meisten freute sie, dass der Baum all denen Mut zum Leben machte, die ihn wahrnahmen und bewunderten.
Diesen Menschen blickte der Baum noch lange nach - oft bis er sie gar nicht mehr sehen konnte. Und manmal begann er dann, so dass es sogar einige Menschen spüren konnten, tief in seinem Herzen glücklich zu lachen.

(Bruno Streibel, Gemeindepfarrer im Stuttgarter Westen, geboren 1942: "Die Zeit, in der ich gelebt wurde, endete vor acht Jahren, als ich zum ersten Mal bewusst ICH sagte. Alles, was dann kam, war Entfaltung und Leben und Lieben und Glauben lernen. Bei diesem Unterwegssein habe ich außer ein paar Menschen vor allem Träume und Märchen als Gefährten und Wegweiser schätzen gelernt. Und als ich Heinz Körners 'Ein Märchen' las, schrieb ich spontan eine Fortsetzung. Indessen sind noch andere Märchen in mir gewachsen. Märchen wollen weitergegeben und gelebt werden, damit wir uns nicht selbst verfehlen, damit das Unerwartete nicht ausgeschlossen wird und in uns die Melodie von Hoffnung und Freude nicht verstummt.")


Dem letzten Satz von Bruno Streibel stimme ich aus eigener Erfahrung uneingeschränkt zu.

2 Kommentare:

  1. Ein schönes und lehrreiches Märchen, liebe Freundin - danke dafür!

    Frank

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  2. Schönes Märchen, traurig-sentimental und sehr optimistisch und hoffnungsvoll.

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