Donnerstag, 26. Mai 2011

Die Blüte in ihrem Haar

Sie trug immer eine Blüte im Haar. Immer. Meist kam mir das irgendwie merkwürdig vor. Mittags eine Blüte? Bei der Arbeit? Bei geschäftlichen Besprechungen? Sie arbeitete auf einen Job als Grafikdesignerin in dem großen Büro hin, in dem auch ich beschäftigt war. Und in die ultramodern gestylten Räume kam sie jeden Tag mit einer Blüte in ihrem schulterlangen Haar hineingesegelt. Meist prangte die Blüte, farblich abgestimmt auf ihr ansonsten passables Outfit, als kleiner bunter Sonnenschirm in den langen, dunkelbraunen Locken. Es gab Anlässe, wie die betriebliche Weihnachtsfeier, an denen die Blüte einen Hauch von Festlichkeit verströmte und durchaus passte. Aber bei der Arbeit schien sie einfach fehl am Platz zu sein.

Einige der eher nüchternen Business-Frauen im Büro mokierten sich furchtbar darüber und meinten, jemand müsse sie beiseite nehmen und ihr sagen, welche "Regeln" man in der Geschäftswelt einhalten müsse, um "ernst genommen" zu werden. Andere, darunter auch ich, hielten das Ganze lediglich für eine Marotte und nannten sie, wenn sie nicht dabei war, "Flower-Power" oder Blumenmädchen.

Es kam also vor, dass die eine oder andere von uns mit ironischem Grinsen fragte: "Ist Fower-Power schon mit dem Vorentwurf für das Wal-Mart-Projekt fertig?"

"Na Klar. Er ist wirklich toll - ihre Arbeit hat wahre Blüten getrieben!" So oder so ähnlich lauteten die Antworten, und wir amüsierten uns köstlich. Damals hielten wir das für einen unschuldigen Spaß. Meines Wissens hat sich niemand bei der jungen Frau erkundigt, warum sie jeden Tag mit einer Blüte im Haar zur Arbeit kam. Ja, wir würden sie wahrscheinlich eher gefragt haben, wenn sie einmal ohne Blüte erschienen wäre.

Was sie eines Tages auch wirklich tat. Als sie zu mir ins Büro kam, um einen Entwurf abzuliefern, hakte ich nach: "Sie tragen ja heute gar keine Blüte im Haar." Ich ließ die Bemerkung so beiläufig wie möglich klingen. "Ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass mir jetzt fast etwas fehlt."

"O ja", antwortete sie leise und in einem ziemlich ernsten Tonfall, der so gar nicht zu ihrem sonst so fröhlichen und aufgeweckten Wesen passen wollte. Die entstehende Pause schien sich ins Unendliche auszudehnen, bis ich schließlich fragte: "Geht es Ihnen gut?" Wenngleich ich irgendwie auf ein "Danke, gut" als Antwort hoffte, wusste ich instinktiv, dass ich da etwas angesprochen hatte, das weit über das Fehlen einer Blüte hinausging.

"O ..." Sie flüsterte fast, und ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. "Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter. Ich vermisse sie schrecklich. Ich bin sicher nicht so in Form wie sonst."

"Ich verstehe", nickte ich. Sie tat mir leid, aber ich wollte mich nicht zu tief in emotionales Gewässer vorwagen. "Es fällt Ihnen bestimmt schwer, darüber zu reden." Die Geschäftsfrau in mir hoffte, sie würde mir zustimmen, aber mein Gefühl sagte mir, dass da noch mehr kommen würde.

"Nein. Es ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass ich heute besonders empfindlich bin. Es ist irgendwie ein trauriger Tag. Wissen Sie ..." Und damit fing sie an zu erzählen.

"Meine Mutter wusste, dass sie keine Chance gegen den Krebs hatte. Und schließlich starb sie daran. Ich war damals fünfzehn. Wir standen uns sehr nahe. Sie war so liebevoll und immer für mich da. Als sie wusste, dass ihr Tod bevorstand, nahm sie für mich im Voraus Geburtstagsgrüße auf Video auf - von meinem sechzehnten bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Heute bin ich fünfundzwanzig geworden, und so habe ich mir heute Morgen das Band angesehen, das sie zu diesem Anlass für mich aufgenommen hat. Ich habe es noch immer nicht ganz überwunden. Und ich würde mir so sehr wünschen, dass sie noch am Leben wäre."

"Mein herzliches Beileid!" Ich spürte eine Welle des Mitgefühls für sie.
"Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich", erwiderte sie.

"Ach, Sie haben eben wegen der Blüte gefragt. Als ich noch klein war, steckte mir meine Mutter oft Blumen ins Haar. Einmal brachte ich ihr eine wunderschöne Rose aus ihrem Garten mit ins Krankenhaus. Ich hielt sie ihr hin, damit sie daran riechen konnte. Da nahm sie sie mir aus der Hand, zog mich wortlos an sich, strich mir sanft das Haar aus dem Gesicht und steckte mir die Rose hinein, genau wie sie es früher immer gemacht hatte. Noch am selben Tag ist sie gestorben." Mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu:"Seither habe ich immer eine Blüte im Haar getragen. Es gab mir das Gefühl, dass sie bei mir ist, wenn auch nur im Geiste. Aber", seufzte sie, "dann habe ich mir heute das Video angesehen, das sie mir für diesen Geburtstag aufgenommen hat. Sie sagte darin, dass es ihr leid täte, mich nicht auf meinem Weg zum Erwachsensein begleiten zu können, und dass sie hoffe, eine gute Mutter gewesen zu sein. Deshalb wünschte sie sich ein Zeichen, dass ich selbständig und unabhängig geworden sei. Das war typisch für meine Mutter - für ihre Art zu denken und zu reden." Die Erinnerung daran ließ sie lächeln. "Sie war so weise."

Ich nickte zustimmend. "Ja, das klingt wirklich sehr weise."

"Da habe ich mir gedacht: Ein Zeichen? Was könnte ich für ein Zeichen setzen? Und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich mich von der Blume trennen musste. Aber ich werde sie vermissen - die Blume und das, wofür sie steht."

Ihr Blick schweifte in die Ferne, während sie sich erinnerte. "Ich hatte solches Glück, sie zu haben." Sie verstummte und sah mich wieder mit ihren haselnussbraunen Augen an. Dann lächelte sie traurig. "Aber ich brauche jetzt keine Blume zu tragen, um mich daran zu erinnern. Ich weiß es auch so. Es war nur ein äußeres Zeichen für den Schatz, der da in meiner Erinnerung ruht. Er ist immer noch da, auch wenn ich keine Blüte mehr trage ... aber ich werde sie trotzdem vermissen ... O, hier ist der Entwurf. Ich hoffe, dass er Ihnen gefällt." Und mit diesen Worten drückte sie mir eine wohl geordnete Mappe in die Hand. Und unter ihrer Signatur prangte als Markenzeichen eine handgemalte Blüte.

Als ich noch ein Kind war, habe ich einmal den Satz gehört: "Beurteile keinen Menschen, bevor du nicht eine Meile in seinen Schuhen gelaufen bist." Mir fielen all die Male ein, in denen ich mich über diese junge Frau mit der Blüte im Haar lustig gemacht hatte, und wie tragisch es war, dass ich es aus völliger Unwissenheit heraus getan hatte. Ich hatte nichts über ihr Schicksal und das Kreuz, das sie zu tragen hatte, gewusst. Ich war immer stolz darauf gewesen, mich in meiner Firma bis ins kleinste Detail auszukennen und genau zu verstehen, auf welche Weise sich diese oder jene Rolle und Funktion auf die nächste auswirkte. Aber fatalerweise war ich der Meinung auf den Leim gegangen, dass das Privatleben eines Menschen nichts mit seinem Berufsleben zu tun habe und morgens bei Arbeitsbeginn an der Garderobe abzugeben sei. An jenem Tag erfuhr ich, dass die Blüte im Haar dieser jungen Frau ein Symbol für ihre überschwängliche Liebe war - es war ihre Möglichkeit, mit ihrer Mutter verbunden zu sein, die sie in so jungen Jahren verloren hatte.

Als ich mir den Entwurf anschaute, fühlte ich mich geehrt, dass er von einem Menschen stammte, der zu einem solchen emotionalen Tiefgang fähig war - der in der Lage war zu fühlen ... zu sein. Kein Wunder, dass sie stets so hervorragende Arbeiten ablieferte. Sie lebte an jedem einzelnen Tag aus ihrem Herzen heraus. Und sie brachte mich dazu, wieder Zugang zu meinem eigenen zu finden.
Bettie B. Youngs, aus "Gifts of the Heart"

Aus: "Hühnersüppchen für die Seele"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen


Geschichten wie diese zeigen mir immer wieder worauf es im Leben ankommt. Es erfüllt mich eine angenehm wohlige Wärme und ich fühle den Herzschlag der Menschheit. Ich stelle mir dann vor, wie alle Menschen sich Zeit für einanderer nehmen - ohne irgendwelche Hintergedanken - und sehe das Paradies.

Paulinchen

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