Montag, 30. Juli 2012

Wachsamkeit ist nötiger den je

Ein Wahlplakat zerrissen auf dem nassen Rasen
sie grinsen mich an, die alten aufgeweichten Phrasen,
die Gesichter von auf Jugendlich gemachten Greisen,
die dir das Mittelalter als den Fortschritt anpreisen.
Und ich denk mir, jeder Schritt zu dem verheiß'nen Glück
ist ein Schritt nach ewig-gestern, ist ein Schritt zurück,
wie sie das Volk zu Besonnenheit und Opfern ermahnen;
sie nennen es Volk - aber sie meinen Untertanen.

All das Leimen, das Schleimen ist nicht länger zu ertragen,
wenn du lernst zu übersetzten, was sie wirklich sagen.
Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
"Halt du sie Dumm, ich halt sie Arm!"

Sei wachsam, präg dir die Worte ein,
sei wachsam, und fall' nicht auf sie rein,
pass auf, dass du deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.
Sei wachsam, merk dir die Gesichter gut,
sei wachsam, bewahr dir deinen Mut,
Sei wachsam, und sei auf der Hut!

Du machst das Fernsehen an, sie jammern nach guten alten Werten,
ihre guten alten Werte sind fast immer die Verkehrten,
und die, die da so Vorlaut in der Talkrunde strampel,
sind es, die auf allen Werten mit Füßen rumtrampeln.
Der Medienmogul und der Zeitungszar
sind die Schlimmsten Böcke als Gärtner, na wunderbar.
Sie rufen nach dem Kruzifix, nach Brauchtum und nach Sitten,
doch ihre Botschaft ist nichts als Arsch und Titten.

Verdummung, Verrohung, Gewalt sind die Gebote,
ihre Götter sind Auflage und Einschaltquote.
Sie Biegen die Wahrheit und verdrehen das Recht,
so viele gute alte Werte, echt, da wird mir echt schlecht!

Sei wachsam, präg dir die Worte ein,
sei wachsam, und fall' nicht auf sie rein,
pass auf, dass du deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.
Sei wachsam, merk dir die Gesichter gut,
sei wachsam, bewahr dir deinen Mut,
Sei wachsam, und sei auf der Hut!

Es ist ne riesen Konjunktur für Rattenfänger,
für Trittbrettfahrer und Schmiergeldempfänger,
ne Zeit für Selbstbediener und Geschäftemacher,
Scheinheiligkeit, Geheuchel und Postengeschacher.
Und die sind alle hoch geachtet und anerkannt,
und nach den schlimmsten werden Straßen und Flugplätze benannt,
man packt den Hühnerdieb, den Waffenschieber lässt man laufen,
kein Pfeifchen Gras, aber ne Giftgasfarbrik kannst du hier kaufen!

Verseuch die Luft, verstrahl das Land, mach ungestraft den größten Schaden
nur lass dich nicht erwischen bei Sitzblockaden!
Man packt den Grünfried und dass Umweltschwein genießt Vertrauen
und die Polizei muss immer auf die Falschen drauf hau'n!

Sei wachsam, präg dir die Worte ein,
sei wachsam, und fall' nicht auf sie rein,
pass auf, dass du deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.
Sei wachsam, merk dir die Gesichter gut,
sei wachsam, bewahr dir deinen Mut,
Sei wachsam, und sei auf der Hut!

Wir haben ein Grundgesetz, das soll den Rechtsstaat garantieren,
was hilft's, wenn sie nach Lust und Laune dran manipulier'n?
Die Scharfmacher, die immer von der Friedensmission quasseln,
und unter'm Tisch schon emsig mit dem Säbel rasseln?
Der alte Glanz in ihren Augen bei'm großen Zapfenstreich,
Abteilung kehrt, im Gleichschritt, Marsch, ein Lied und heim in's Reich!
Nie wieder soll von diesem Land Gewalt ausgehen,
wir müssen Flagge zeigen, dürfen nicht beiseite Stehen.

Rein humanitär natürlich, und ganz ohne Blutvergießen,
Kampfeinsätze sind jetzt nicht mehr so ganz auszuschließen,
sie zieh'n uns immer Tiefer rein, Stück für Stück,
und seit heute Früh um fünf Uhr schießen wir wieder zurück!

Sei wachsam, präg dir die Worte ein,
sei wachsam, und fall' nicht auf sie rein,
pass auf, dass du deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.
Sei wachsam, merk dir die Gesichter gut,
sei wachsam, bewahr dir deinen Mut,
Sei wachsam, und sei auf der Hut!

Ich hab Sehnsucht nach Leuten, die mich nicht betrügen,
die mir nicht mit jeder Festrede die Hucke voll lügen,
und verschohn' mich mit den falschen Ehrlichen,
die falschen Ehrlichen, die wahren Gefährlichen.
Ich habe Sehnsucht nach einem Stück Wahrhaftigkeit,
nach 'nem bisschen Rückgrat in dieser verkrümmten Zeit.
Doch sag die Wahrheit, und du hast bald nichts mehr zu lachen,
sie werden dich ruinieren, exekutieren und mundtod machen!

Erpressen, bestechen, versuchen, dich zu kaufen!
wenn du die Wahrheit sagst, lass draußen den Motor laufen!
Dann sag sie laut und schnell, denn das Sprichwort lehrt:
"Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd!"

Sei wachsam, präg dir die Worte ein,
sei wachsam, und fall' nicht auf sie rein,
pass auf, dass du deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.
Sei wachsam, merk dir die Gesichter gut,
sei wachsam, bewahr dir deinen Mut,
Sei wachsam, und sei auf der Hut!

Wachsamkeit erfordert ein gutes Hör- und Sehvermögen sowie einen kritischen Verstand, der das Gehörte und Gesehene analysieren und folgerichtig einordnen kann. Eine Portion gesunde Fantasie mit an Bord, dann kann die Unternehmung Wachsamkeit gelingen.


2 Kommentare:

  1. Ja, dies ist eines der schönsten Lieder von Reinhard Mey. Man sollte ihn zumindest erwähnen.

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  2. Liebe Katrin,

    danke für Deine Wortmeldung.

    Nur, empfindest Du diesen Text wirklich als schön?

    So wie ich Reinhard Mey einschätze, wollte er ganz bestimmt kein schönes Lied produzieren, sondern - mit den Mitteln die ihm zur Verfügung stehen, also mit einem Lied - die, die das Lied hören zum Nachdenken animieren.

    Dieser Text schreit regelrecht danach hinzusehen und sich zu besinnen, sich zu fragen: Was kann ICH tun, damit die aus den Fugen geratende Welt wieder ins Gleichgewicht kommt?

    Aber das ist nur meine unmaßgebliche Meinung.

    Liebe Grüße
    Margitta

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