Die meisten Menschen haben etwas, das sie inspiriert. Vielleicht sind es die Worte von jemandem, den man respektiert, oder eine Erfahrung. Was auch immer diese Inspiration sein mag, sie hilft einem meist dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Meine Inspiration war meine Schwester Vicki, eine liebenswürdige und feinfühlige Person. Sie strebte, weder nach Auszeichnungen noch danach, dass in der Zeitung über sie geschrieben wurde. Ihr genügte es, ihre Liebe mit all den Menschen zu teilen, die ihr am Herzen lagen: ihre Familie und ihre Freunde.
Im Sommer vor meinem Junior-Jahr auf dem College rief mein Vater mich an und sagte, dass Vicki ins Krankenhaus gebracht worden sei. Sie war zusammengebrochen, und die rechte Seite ihres Körpers war gelähmt. Die erste Vermutung war, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Aber die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die Situation weitaus ernster war. Ein bösartiger Gehirntumor war die Ursache ihrer Lähmung. Die Ärzte gaben ihr nur noch drei Monate zu leben. Wie konnte das nur geschehen? Am Tag zuvor war Vicki noch völlig in Ordnung gewesen. Nun schien ihr Leben plötzlich und unerwartet in jungen Jahren zu enden.
Nachdem ich den ersten Schock und das Gefühl der Leere überwunden hatte, kam ich zu dem Entschluss, dass Vicki Hoffnung und Ermutigung brauchte. Sie brauchte jemanden, der sie dabei unterstützte, dieses Hindernis zu überwinden. So wurde ich Vickis Coach. Jeden Tag visualisierten wir, wie sich der Tumor zurückbildete, und wir sprachen nur noch über positive Dinge. Ich heftete sogar ein Schild an ihre Krankenhauszimmertür, auf dem stand: "Wenn du negative Gedanken hast, lass sie draußen." Ich war entschlossen, Vicki dabei zu helfen, den Tumor zu besiegen. Wir trafen ein Abkommen, das wir "Fifty-Fifty" nannten. Ich übernahm fünfzig Prozent des Kampfes und Vicki die anderen fünfzig.
Der August kam und mit ihm der Zeitpunkt, dreitausend Meilen entfernt mit dem College zu beginnen. Ich war unsicher, ob ich abreisen oder bei Vicki bleiben sollte, und machte den Fehler, ihr zu erzählen, dass ich vielleicht nicht zum College aufbrechen würde. Sie wurde wütend und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie werde schon allein zurechtkommen. Da lag Vicki in einem Krankenhausbett und erzählte mir, sich solle mir keine Sorgen machen. Ich sah, dass mein Bleiben die Botschaft aussenden könnte, sie werde bald sterben, und ich wollte auf keinen Fall, dass sie das glaubte. Vicki sollte fest daran glauben, dass sie den Tumor besiegen könne.
Es fiel mir sehr schwer, am letzten Abend vor dem Abflug Abschied von ihr zu nehmen im Bewusstsein, sie vielleicht das letzte Mal zu sehen. Auf dem College habe ich dann niemals aufgehört, meine fünfzig Prozent für sie zu kämpfen. Jede Nacht vor dem Schlafengehen sprach ich im Geiste mit Vicki, in der Hoffnung, dass sie mich irgendwie hören würde. Ich sagte: "Vicki, ich kämpfe für dich und werde dich niemals im Stich lassen. Wenn auch du nicht aufhörst zu kämpfen, werden wir den Tumor besiegen."
Ein paar Monate waren vergangen, und sie hielt immer noch durch. Ich sprach mit einer älteren Freundin, und sie erkundigte sich nach Vickis Befinden. Ich erzählte ihr, dass sich Vickis Zustand verschlechterte, sie aber nicht aufgab. Meine Freundin stellte mir daraufhin die Frage, die mich wirklich nachdenken ließ. Sie fragte: "Hast du mal daran gedacht, dass sie vielleicht deshalb nicht loslässt, weil sie dich nicht hängen lassen will?"
Vielleicht hatte sie Recht? Vielleicht ermutigte ich Vicki nur aus egoistischen Motiven? Bevor ich an jenem Abend zu Bett ging, sagte ich zu meiner Schwester: "Vicki, ich verstehe, dass du große Schmerzen hast und vielleicht alles hinter dir lassen willst. Wenn du das möchtest, dann möchte ich es auch. Wir haben bislang nicht verloren, weil du nie aufgehört hast zu kämpfen. Wenn du zu einem besseren Ort überwechseln willst, habe ich Verständnis dafür. Irgendwann werden wir wieder zusammen sein. Ich liebe dich und werde immer dort sein, wo du bist."
Früh am nächsten Morgen rief mich meine Mutter an, um mir zu sagen, dass Vicki gegangen sei.
James Malinchak
Aus: "Noch mehr Hühnersüppchen für die Seele"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen
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