Äußere Vorteile können kein Selbstvertrauen geben.
Die Kraft des eigenen Wesens ... muss von innen kommen.
R. W. Clark
Das Erste, was ich an ihr wahrnahm, waren ihre Hände. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie alt ich war, aber mein ganzes Wesen und meine ganze Existenz waren mit diesen Händen verbunden. Die Hände gehörten meiner Mom; sie ist blind.
Ich erinnere mich daran, dass ich am Küchentisch saß und ein Bild ausmalte. "Schau mal mein Bild an, Mama. Es ist ganz fertig."
"Oh, das ist aber schön," antwortete sie und machte mit dem weiter, was sie gerade tat.
"Nein, sieh dir mein Bild mit den Fingern an", beharrte ich. Sie kam dann zu mir herüber und fuhr mit ihren Händen das ganze Bild ab. Immer wieder genoss ich ihre aufgeregte Reaktion, dass das Bild wunderschön sei.
Es kam mir nie in den Sinn, dass es merkwürdig war, dass sie Dinge mit den Händen spürte, dass sie mein Gesicht oder Dinge, die ich ihr zeigte, berührte. Mir war klar, dass mein Vater mich und die Dinge, die ich ihm zeigte, mit den Augen sah, und dasselbe taten meine Oma oder andere Leute, die in unser Haus kamen; aber ich dachte nie, dass es ungewöhnlich sei, dass Mom ihre Augen nicht benutzte.
Ich erinnere mich noch daran, wie sie meine langen Haare kämmte. Sie legte den Daumen ihrer linken Hand zwischen meine Augenbrauen, direkt über der Nasenwurzel, und ihren Zeigefinger auf den höchsten Punkt meines Kopfes. Das war ihre Methode, zwischen den beiden Punkten eine gerade Linie herzustellen; dann führte sie den Kamm von ihrem Zeigefinger zum Daumen, Sie hoffte wohl, dass so der Scheitel in der Mitte wäre. Ich habe ihre Fähigkeit, diese Aufgabe auszuführen, nie in Frage gestellt.
Wenn ich, was oft vorkam, beim Spielen hinfiel, weinend ins Haus kam und Mom erzählte, dass mein Knie blutete, wuschen ihre sanften Hände mein Knie ab und brachten geschickt einen Verband an.
Eines Tages fand ich leider heraus, dass es bestimmte Dinge gab, die Mom nicht berühren wollte. Ich fand einen winzigen Vogel, der tot auf dem Bürgersteig vor unserem Haus lag, und brachte ihn nach drinnen, um ihn Mama zu zeigen. "Sieh mal, was ich gefunden habe", sagte ich, während ich ihre Hand nahm, damit sie den Vogel berührte. "Was ist das?", fragte sie. Sie berührte leicht das tote Geschöpf in meiner ausgestreckten Handfläche, und ich konnte das Entsetzen in ihrer Stimme hören, als sie noch einmal fragte: "Was ist das?"
"Ein kleiner toter Vogel", erwiderte ich. Sie stieß einen Schrei aus und zog schnell ihre Hand zurück und schickte mich und den Vogel nach draußen; sie ermahnte mich, sie nie wieder so etwas anfassen zu lassen.
Ich wusste nie genau, was sie alles durch Riechen, Hören oder Berühren herausbekommen konnte. Einmal sah ich ein Tablett mit Plätzchen, das Mutter gerade auf den Tisch gestellt hatte. Ich nahm mir heimlich eins und wartete ab, ob sie etwas sagen würde. Sie sagte nichts, und natürlich dachte ich, sie würde nicht wissen, was ich getan hatte, solange sie es nicht mit ihren Händen fühlen würde. Mir war nicht klar, dass sie mich kauen hören konnte. Als ich Plätzchen mampfend an ihr vorbeiging, packte sie mich am Arm. "Das nächste Mal fragst du bitte, anstatt dir einfach eins zu nehmen, Karrey", sagte sie. "Du kannst haben, so viel du willst, aber das nächste Mal fragst du mich."
Ich habe einen Bruder und eine Schwester, die älter sind als ich, und einen jüngeren Bruder, und wir kamen nie darauf, wieso sie wusste, wer von uns etwas Bestimmtes getan hatte. Einmal brachte mein älterer Bruder einen streunenden Hund mit nach Hause und schmuggelte ihn heimlich die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Kurz darauf marschierte meine Mutter die Treppe hoch, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und befahl ihm, den Hund nach draußen zu bringen. Wir wunderten uns, wie sie herausgefunden hatte, dass ein Hund im Haus war.
Als ich älter wurde, ging mir auf, dass Mutter psychologisch vorging. Und weil ihre Ohren und ihre Nase ziemlich gut funktionierten, zählte sie zwei und zwei zusammen und kam gewöhnlich auf die richtige Antwort. Sie hatte das Klack-Klack gehört, das die Zehennägel des Hundes auf dem Fußboden gemacht hatten.
Und erst ihre Nase! Wie konnte sie so viel wissen? Einmal spielten meine Freundin und ich in meinem Schlafzimmer mit unseren Puppen. Ich huschte kurz in Moms Zimmer und besprengte die Puppen mit etwas Parfüm von ihr. Dann machte ich den Fehler, nach unten zu rennen und Mom etwas zu fragen. Sie sagte mir sofort, sie wüsste, dass ich in ihrem Schlafzimmer gewesen wäre und ihr Parfüm benutzt hätte.
Und diese Ohren. Wie sie nur wussten, was wir machten! Eines Abends war ich allein im Wohnzimmer, machte Hausaufgaben und hatte nebenbei leise den Fernseher laufen. Mutter kam herein und fragte: "Karrey, machst du Hausaufgaben oder siehst du fern?" Ich war leicht überrascht, antwortete ihr aber und machte mit meinen Hausaufgaben weiter. Später dachte ich darüber nach und fragte mich, wieso sie gewusst hatte, das ich im Wohnzimmer gewesen war und nicht einer von meinen Brüdern oder meine Schwester. Ich fragte sie danach. "Tja, Pech gehabt, Schätzchen", meinte sie und tätschelte mir sacht den Kopf. "Deine Polypen sind zwar weg, aber du atmest immer noch durch den Mund. Ich hab dich gehört."
Mutter hatte auch einen guten Orientierungssinn. Sie hatte ein Tandem, und abwechselnd fuhren wir mit ihr. Ich saß auf dem vorderen Sitz und lenkte und trat in die Pedale, und sie saß hinten. Sie schien immer zu wissen, wo wir waren, und sagte laut und deutlich die Richtungen an. Sie wusste immer, wann wir uns einer Kreuzung näherten oder wann ein schnelles Fahrzeug von rechts kam.
Woher wusste sie, dass ich mich, als ich als Neunjährige in der Badewanne saß, nicht ganz gewaschen hatte? Ich plantschte mit meinen Spielsachen im Wasser herum und amüsierte mich köstlich. "Karrey, hast du dir auch das Gesicht und die Ohren gewaschen?" Ich hatte sie vergessen, aber woher wusste sie das? Ihr war natürlich klar, dass ein kleines Mädchen, das sich in der Badewanne mit seinen Spielsachen vergnügt, sich nicht mit dem Waschen aufhält. Mir dämmerte, dass sie bei unserer Erziehung auch ihren Verstand benutzte.
Das Einzige, was uns wirklich beunruhigte, war die Tatsache, dass Mom nie wirklich wusste, wie wir aussahen. Als ich mit ungefähr siebzehn einmal vor dem Badezimmerspiegel stand und meine Haare kämmte, fragte ich: Weißt du wirklich nicht, wie wir aussehen, Mama?" Sie fühlte gerade meine Haare, um zu sehen, wie lang sie waren.
"Natürlich weiß ich das", war ihre Antwort."
"Ich wusste, wie du an dem Tag ausgesehen hast, an dem sie deinen winzigen kleinen Körper zum ersten Mal in meine Arme gelegt haben. Ich habe jeden Zentimeter von dir und den weichen Flaum auf deinem Kopf gefühlt. Ich wusste, das du blond warst, weil dein Vater es mir gesagt hat. Ich weiß, dass du sehr hübsch bist, weil die Leute es mir sagen. Ich weiß wirklich, wie du aussiehst - wie deine Seele aussieht." Meine Augen wurden feucht.
"Ich weiß, dass du gelenkig und stark bist, denn du bist gern auf dem Tennisplatz. Ich weiß, dass du einen guten Charakter hast, weil ich höre, wie du mit der Katze und mit kleinen Kindern redest. Ich weiß, dass du ein weiches Herz hast. Ich weiß dass du verwundbar bist, denn ich habe deine verletzten Reaktionen auf manche Bemerkung mitbekommen. Ich weiß, dass du Charakter hast, denn du hast den Mut, den Mund aufzumachen und deine Überzeugung zu verteidigen. An der Art, wie du mich behandelst, sehe ich, dass du Respekt vor Menschen hast. Ich weiß, dass du Weisheit hast, weil du dich für ein Mädchen deines Alters weise verhältst. Ich weiß auch, dass du deinen eigenen Kopf hast, denn ich habe eine Spur Wut gesehen, was mir sagt, dass niemand dich davon abhalten kann, die richtigen Dinge zu tun. Ich weiß, dass du Familiensinn hast, denn ich habe gehört, wie du deine Brüder und deine Schwester verteidigt hast. Ich weiß, dass deine Fähigkeit zu lieben sehr groß ist, denn du hast sie mir und deinem Vater oft gezeigt. Du hast in keiner Form angedeutet, dass du irgendwie unzureichend bist, weil du eine blinde Mutter hast. So, mein Schatz", sagte sie und zog mich näher an sich heran, "ich sehe dich, und ich weiß genau, wie du aussiehst, und für mich bist du wunderschön."
Das war von zehn Jahren, und vor kurzem bin ich selbst Mutter geworden. Als sie mir meinen kostbaren kleinen Sohn in die Arme legten, konnte ich, genauso wie damals meine Mutter, mein Kind sehen und wissen, wie schön es war. Der einzige Unterschied war, dass ich es mit meinen Augen sehen konnte. Aber manchmal möchte ich das Licht ausmachen, meinen Sohn festhalten und berühren und seihen, ob ich all die Dinge spüren kann, die meine Mutter gespürt hat.
Karrey Janvrin LindenbergAus: "Hühnersuppe für die Seele - Weiter Geschichten, die zu Herzen gehen"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen
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